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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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der gierig und undankbar war – von diesem verlockenden Ort hörte, verlangte er hohe Steuern vom Volk der Yao.«
    Gerade als uns die ersten Schneeflocken auf Haare und Gesicht fielen, hakte sich Schneerose bei mir ein und erhob die Stimme, um den nächsten Teil der Geschichte zu erzählen. »Warum sollen wir bezahlen?, wollten die Yao wissen.« Ihre Stimme klang ganz schrill vor Kälte. »Oben auf dem Berg, der ihr Dorf vor Eindringlingen schützte, bauten sie einen Steinwall.
Der Kaiser schickte drei Steuereintreiber zu Verhandlungen in die Höhle. Sie kamen nicht wieder heraus. Der Kaiser schickte drei weitere...«
    Die Frauen um das Feuer fielen ein. »Sie kamen nicht wieder heraus.«
    »Der Kaiser entsandte ein drittes Kontingent.« Schneeroses Stimme wurde kräftiger. Ich hatte sie noch nie so gehört. Ihre Stimme trieb klar und schön über die Berge. Wenn die Rebellen sie gehört hätten, wären sie geflohen, aus Angst vor einem Fuchsgeist.
    »Sie kamen nicht wieder heraus«, antworteten die Frauen.
    »Der Kaiser schickte Truppen aus. Es kam zu einer blutigen Belagerung. Viele vom Volk der Yao – Männer, Frauen und Kinder – starben. Und nun? Was war zu tun? Der Vorsteher nahm ein Wasserbüffelhorn und teilte es in zwölf Stücke. Diese verteilte er an einzelne Gruppen und hieß sie, sich zu zerstreuen und weiterzuleben...«
    »Sich zu zerstreuen und weiterzuleben …«, wiederholten wir Frauen.
    »Und so kam das Volk der Yao in die Täler und in die Berge, in diese Provinz und in andere.« Schneerose wurde leiser.
    Pflaumenblüte, die jüngste Frau in unserer Gruppe, beendete die Geschichte. »Es heißt, in fünfhundert Jahren wird das Volk der Yao, wo immer sie auch sein mögen, wieder durch die Höhle kommen, das Horn zusammensetzen und unser Land des Zaubers neu aufbauen. Diese Zeit wird bald kommen.«
    Es war schon viele Jahre her, seit ich die Geschichte gehört hatte, und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Die Yao hatten sich im Schutz des Bergs, des Steinwalls und der geheimen Höhle sicher geglaubt, aber das waren sie nicht. Nun fragte ich mich, wer wohl zuerst in unseren Bergkessel eindringen und was passieren würde, wenn es soweit war. Die Taiping würden vielleicht versuchen, uns auf ihre Seite zu ziehen, während
die Große Hunan-Armee uns fälschlicherweise für Rebellen halten konnte. So oder so: Würden wir einen aussichtslosen Kampf führen, so dass es uns erging wie unseren Vorfahren? Würden wir je nach Hause zurückkehren können? Ich dachte über die Taiping nach, die – wie das Volk der Yao – gegen hohe Steuern und das Feudalsystem revoltiert hatten. Waren sie im Recht? Sollten wir uns ihnen anschließen? Machten wir unseren Vorfahren Schande, indem wir das nicht erkannten?
    In dieser Nacht schlief niemand von uns.

WINTER
     
     
    D ie vier Familien aus Jintian blieben weiterhin unter dem Schutz des großen Baums mit den ausladenden Ästen zusammen, doch die Tortur nahm kein Ende – nicht nach zwei Nächten und auch nicht nach einer Woche. Niemand konnte sich erinnern, dass es in unserer Provinz je so stark geschneit hatte. Wir hatten ständig unter den eiskalten Temperaturen zu leiden. Wir atmeten Dampfwolken aus, die von der Bergluft geschluckt wurden. Wir hatten Hunger. Jede Familie hortete ihre Lebensmittel, denn keiner wusste, wie lange wir weg sein würden. Irgendjemand im Lager hatte immer Husten, Erkältung, Halsschmerzen. An diesen Erkrankungen und durch die erbarmungslos kalten Nächte starben Männer, Frauen und Kinder.
    Meine Füße waren bei unserer Flucht schlimm verletzt worden – und so ging es den meisten Frauen hier in den Bergen. Wir hatten keine Privatsphäre, deshalb mussten wir unsere Füße vor den Augen der Männer aufbinden, säubern und wieder einbinden. Wir überwanden unsere Scham auch bei anderen Körperfunktionen, lernten, unsere Notdurft hinter einem Baum zu verrichten oder später in der gemeinsamen Latrine, als sie ausgehoben war. Doch im Gegensatz zu mir hatten die meisten Frauen hier oben ihre Familie um sich. Ich vermisste meinen ältesten Sohn und die anderen Kinder sehr. Ich machte mir unablässig Sorgen um meinen Mann, seine Brüder, meine Schwägerinnen, ihre Kinder, sogar um die Dienstmädchen – und ob sie wohl sicher nach Yongming gekommen waren.
    Es dauerte beinahe einen Monat, bis meine Füße so weit verheilt
waren, dass ich wieder laufen konnte, ohne dass sie bluteten. Zu Beginn des zwölften Mondmonats beschloss ich,

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