Seidenfächer
einem Augenblick zum anderen war ich nicht mehr das wertlose Mädchen, sondern ich konnte der Familie nützlich werden.
Meine Bandagen und die besonderen Schuhe, die meine Mutter für den Altar der Guanyin angefertigt hatte, wurden weggepackt, genauso wie die Bandagen und Schuhe, die für Schöner Mond gemacht worden waren. Ehrenwerte Frau Wang stattete uns regelmäßig Besuche ab. Sie kam immer in ihrer eigenen Sänfte. Stets inspizierte sie mich von Kopf bis Fuß. Immer stellte sie mir Fragen über meine hausfraulichen Fähigkeiten. Ich würde nicht sagen, dass sie freundlich zu mir war. Für sie war ich nur ein Mittel, um Geld zu verdienen.
Im nächsten Jahr begann meine Erziehung im oberen Frauengemach richtig, aber vieles wusste ich bereits. Ich wusste, dass Männer das Frauengemach selten betraten, denn es war allein für uns bestimmt. Dort konnten wir unsere Arbeit tun und unsere Gedanken teilen. Ich wusste, dass ich fast mein ganzes
Leben in einem Raum wie diesem verbringen würde. Und ich wusste auch, dass der Unterschied zwischen nei – dem inneren Bereich des Hauses – und wai – dem äußeren Bereich der Männer – das Prinzip der konfuzianischen Gesellschaft ausmachte. Ob reich oder arm, ob Kaiser oder Sklave, die häusliche Sphäre ist den Frauen vorbehalten und die äußere den Männern. Frauen sollten weder in Gedanken noch in Taten die inneren Gemächer verlassen. Ich begriff auch, dass zwei konfuzianische Ideale unser Leben beherrschten. Das erste waren die Drei Gehorsamkeiten: Als Mädchen gehorche deinem Vater, als Frau gehorche deinem Mann, als Witwe gehorche deinem Sohn. Das zweite waren die Vier Tugenden, die das Benehmen, das Sprechen, das Auftreten und die Beschäftigung der Frauen beschreiben: Sei in deinem Benehmen keusch und nachgiebig, halte dich ruhig und aufrecht; sei im Ausdruck still und angenehm, in der Bewegung verhalten und anmutig, bei der Handarbeit und beim Sticken vollkommen. Wenn Mädchen nicht von diesen Prinzipien abweichen, wachsen sie zu tugendhaften Frauen heran.
Mein Unterricht wurde nun auf die praktischen Künste ausgedehnt. Ich lernte, einen Faden in eine Nadel einzufädeln, die Farbe des Garns auszuwählen und kleine, gleichmäßige Stiche zu machen. Das alles war wichtig, da Schöner Mond, Dritte Schwester und ich nun mit der Arbeit an den Schuhen begannen, die uns durch den zweijährigen Prozess des Füßebindens begleiten würden. Wir brauchten Schuhe für den Tag, spezielle Schlafschuhe und mehrere Paar enger Socken. Wir arbeiteten chronologisch und begannen mit den Schuhen, die jetzt auf unsere Füße passten, um dann zu immer kleiner werdenden Größen überzugehen.
Am wichtigsten aber war, dass meine Tante mir von nun an Nushu beibrachte. Damals verstand ich nicht ganz, weshalb sie sich ausgerechnet für mich so interessierte. Ich glaubte törichterweise,
wenn ich fleißig war, dann würde ich Schöner Mond dazu inspirieren, ebenfalls fleißig zu sein. Und wenn sie fleißig war, dann könnte sie vielleicht eine bessere Partie machen als ihre Mutter. Aber eigentlich wollte uns meine Tante die Geheimschrift deshalb beibringen, damit Schöner Mond und ich für immer etwas teilen konnten. Ich bekam damals auch nicht mit, dass dies zu Auseinandersetzungen zwischen meiner Tante und meiner Mutter und Großmutter führte, die beide weder Nushu lesen noch schreiben konnten, genauso wenig wie mein Vater und Onkel die Männerschrift beherrschten.
Damals hatte ich die Männerschrift noch nie gesehen, deshalb hatte ich keinen Vergleich. Doch heute kann ich sagen, dass die Männerschrift grob ist. Jedes Zeichen passt sozusagen in ein Viereck, während unser Nushu aussieht wie Mückenbeine oder Vogelspuren im Staub. Anders als in der Männerschrift steht ein Nushu-Zeichen nicht für ein bestimmtes Wort. Unsere Zeichen sind vielmehr phonetischer Natur. Daher kann ein Zeichen viele gleich klingende Wörter darstellen. Während ein und dasselbe Zeichen also zum Beispiel für das Wort »Schloss« mit seinen beiden Bedeutungen – das Bauwerk oder die Schließvorrichtung – stehen kann, erschließt sich die Bedeutung für gewöhnlich erst aus dem Kontext. Dennoch muss man sehr gut aufpassen, damit man die Bedeutung nicht fehlinterpretiert. Viele Frauen – wie meine Mutter und meine Großmutter – haben die Schrift nie gelernt, aber sie kennen trotzdem einige der Lieder und Geschichten, von denen viele in einem Ta-dam-ta-dam-ta-dam -Rhythmus gesungen werden.
Tante
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