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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Absonderung von Blut und Eiter etwas reduziert wurde. Sie schnitt mir die Zehennägel so kurz wie möglich. Währenddessen wurden meine Bandagen eingeweicht, denn dann schrumpften sie noch enger zusammen, wenn sie auf der Haut trockneten. Als Nächstes nahm Mama ein Ende einer Bandage, legte es mir auf den Spann und zog den Stoff über die vier kleineren Zehen, damit sie mit der Zeit unter dem Fuß verschwanden. Von dort aus wickelte sie mir die Bandage nach hinten um die Ferse. Mit einer weiteren Schlinge um den Knöchel stabilisierte sie die ersten beiden Schlingen. Das Ziel war, die Zehen und die Ferse zusammenzubringen und den Spalt entstehen zu lassen, jedoch ohne die große Zehe, damit ich darauf laufen konnte. Mama wiederholte die einzelnen Schritte, bis alle zehn Meter verbraucht waren. Tante und Großmutter sahen ihr dabei die ganze Zeit über die Schulter, um aufzupassen, dass sich keine Falten in diese Schlingen einschlichen. Schließlich nähte Mama das Ende fest zu, so dass sich die Bandagen nicht lockern konnten und ich den Fuß nicht freibekam.
    Sie wiederholte das Ganze mit meinem anderen Fuß, dann fing Tante bei Schöner Mond an. Während des Bindens sagte Dritte Schwester, sie wolle einen Schluck Wasser trinken, und ging nach unten. Als die Füße von Schöner Mond fertig waren, rief Mama meine Schwester, aber es kam keine Antwort. Eine Stunde zuvor wäre ich noch gebeten worden, sie zu suchen, aber für die nächsten zwei Jahre sollte es mir nicht gestattet sein, unsere Treppe hinunterzusteigen. Mama und Tante durchsuchten das Haus und gingen nach draußen. Ich wollte zum Gitterfenster eilen und hinausschauen, aber mir taten schon
jetzt die Füße weh, als sich der Druck auf meine Knochen aufbaute und der Blutkreislauf wegen der engen Bandagen unterbrochen wurde. Ich warf einen Blick hinüber zu Schöner Mond. Ihr Gesicht war so weiß, wie es ihr Name verhieß. Zwei Tränenbäche rannen ihr die Wangen hinunter.
    Von draußen hörte man Mama und Tante rufen: »Dritte Schwester, Dritte Schwester!«
    Großmutter und Ältere Schwester gingen zum Gitterfenster und schauten hinaus.
    » Aiya «, murmelte Großmutter.
    Ältere Schwester sah zu uns her. »Mama und Tante sind bei den Nachbarn. Hört ihr Dritte Schwester schreien?«
    Schöner Mond und ich schüttelten den Kopf.
    »Jetzt zerrt Mama Dritte Schwester über die Straße«, berichtete Ältere Schwester.
    Da hörten wir Dritte Schwester brüllen: »Nein, ich gehe nicht mit. Ich mach das nicht!«, und Mama schimpfte laut: »Du bist ein wertloses Nichts. Du bist eine Schande für deine Vorfahren.«
    Das waren hässliche, aber nicht ungewöhnliche Worte, und man hörte sie beinahe jeden Tag in unserem Dorf.
    Dritte Schwester wurde in das Zimmer geschoben, aber sobald sie auf den Boden gefallen war, rappelte sie sich wieder auf, rannte in eine Ecke und kauerte sich hin.
    »Das wird jetzt gemacht. Du hast gar keine Wahl«, verkündete Mama, als Dritte Schwester sich panisch nach einem Versteck umsah. Sie saß in der Falle, und nichts konnte das Unvermeidliche aufhalten. Mama und Tante näherten sich ihr. Sie machte einen letzten Versuch, unter den nach ihr ausgestreckten Armen zu entwischen, aber Ältere Schwester packte sie. Dritte Schwester war erst sechs Jahre alt, aber sie kämpfte und strampelte, so sehr sie konnte. Ältere Schwester, Tante und Großmutter drückten sie nach unten, während Mama ihr rasch
die Bandagen um die Füße wickelte. Unterdessen schrie Dritte Schwester unablässig. Ein paar Mal entkam ein Arm, nur um gleich wieder festgehalten zu werden. Eine Sekunde lockerte Mama den Griff um den Fuß von Dritter Schwester, und schon schlug das ganze Bein aus, und die lange Bandage wirbelte durch die Luft wie das Band eines Zirkuskünstlers. Schöner Mond und ich waren entsetzt. So sollte sich niemand in unserer Familie benehmen. Doch uns blieb nichts übrig, als dazusitzen und zuzusehen, denn mittlerweile schoss uns der Schmerz wie Dolche von den Füßen hinauf in die Beine. Schließlich war Mama fertig. Sie ließ den Fuß von Dritter Schwester auf den Boden fallen, blickte angewidert auf ihre jüngste Tochter hinab und spuckte ein einziges Wort aus. »Nutzlos!«
    Nun werde ich über die nächsten Minuten und Wochen schreiben, einen Zeitraum, der in einem Leben, das so lang war wie meines, eigentlich unbedeutend sein sollte, mir aber vorkam wie eine Ewigkeit.
    Mama sah zuerst mich an, weil ich die Älteste war. »Steh auf!«
    Das war

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