Seidenfächer
brachte mir die besonderen Regeln bei, die für Nushu gelten. Man kann Briefe damit schreiben, Lieder, Lebensgeschichten, Lektionen über die Pflichten der Frauen, Gebete zur Göttin und natürlich allgemein bekannte Erzählungen. Man kann es mit einem Pinsel und Tusche auf Papier oder auf einen Fächer schreiben; es kann auf ein Taschentuch aufgestickt oder
in Stoff eingewebt werden. Es kann und sollte vor einem Publikum aus anderen Frauen und Mädchen gesungen werden, aber es kann auch etwas sein, das man allein liest und schätzt. Die zwei wichtigsten Regeln jedoch sind diese: Männer dürfen nie erfahren, dass es existiert, und Männer dürfen es in keiner Form berühren.
Alles ging seinen Gang – Schöner Mond und ich lernten jeden Tag etwas Neues – bis zu meinem siebten Geburtstag, als der Wahrsager wiederkam. Diesmal musste er für drei Mädchen – Schöner Mond, mich und Dritte Schwester, die als Einzige von uns das richtige Alter hatte – einen gemeinsamen Tag finden, an dem unser Füßebinden beginnen konnte. Er druckste herum. Er berechnete unsere acht Zeichen. Letztendlich bestimmte er dann einen Tag, der für Mädchen in unserer Region ganz üblich war – den vierundzwanzigsten Tag des achten Mondmonats. An diesem Tag sprechen die Mädchen, denen die Füße gebunden werden, ihre Gebete und bringen der Göttin, die über das Füßebinden wacht, die letzten Opfergaben dar. Diese Göttin heißt »Mädchen mit den kleinen Füßen«.
Mama und Tante nahmen ihre Vorbereitungen wieder auf und schnitten noch mehr Bandagen zurecht. Sie gaben uns Klöße aus roten Bohnen zu essen, damit unsere Knochen so weich wie ein Knödel würden und damit es unser Ziel sei, dass unsere Füße auch nicht größer als so ein Knödel wurden. In den Tagen, die unserem Füßebinden vorangingen, besuchten uns viele Frauen aus unserem Dorf im oberen Gemach. Die Schwurschwestern von Älterer Schwester wünschten uns Glück, brachten uns noch mehr Süßigkeiten und gratulierten uns zu unserem offiziellen Eintritt in die Frauenwelt. Feierklänge erfüllten den Raum. Alle waren fröhlich, sangen, lachten, unterhielten sich. Heute weiß ich, dass über vieles nicht gesprochen wurde. Niemand sagte mir, dass ich sterben konnte.
Erst als ich zu meinem Ehemann ins Haus zog, erfuhr ich von meiner Schwiegermutter, dass eines von zehn Mädchen beim Füßebinden starb, und zwar nicht nur in unserem Landkreis, sondern auch in ganz China.
Ich wusste lediglich, dass ich durch das Füßebinden leichter einen Ehemann finden und deshalb der größten Liebe und der größten Freude im Leben einer Frau näher gebracht würde – einem Sohn. Deshalb war es mein Ziel, ein perfekt gebundenes Fußpaar mit sieben bestimmten Merkmalen zu bekommen: Sie sollten klein, schmal, gerade, spitz und gewölbt sein, aber dennoch wohl riechen und sich weich anfühlen. Von diesen Erfordernissen ist die Länge am wichtigsten. Sieben Zentimeter entsprechen dem Ideal. Als Nächstes kommt die Form. Ein perfekter Fuß sollte die Form einer Lotosknospe haben. Er sollte an der Ferse voll und rund sein, vorne spitz zulaufen, und das ganze Gewicht sollte allein von der großen Zehe getragen werden. Das bedeutet, dass die Zehen und das Fußgewölbe gebrochen und bis zur Ferse zurückgebogen werden müssen. Der Spalt schließlich, der zwischen dem vorderen Teil des Fußes und der Ferse entsteht, sollte so tief sein, dass man eine große Käsch-Münze aufrecht darin verbergen kann. Wenn ich es so weit schaffte, würde ich durch Glück und Zufriedenheit belohnt werden.
Am Morgen des vierundzwanzigsten Tags des achten Mondmonats brachten wir dem Mädchen mit den kleinen Füßen Klebreisbällchen dar, während unsere Mütter die Miniaturschuhe, die sie genäht hatten, vor eine kleine Statue der Guanyin legten. Danach legten Mama und Tante Alaun, Adstringens, Schere, spezielle Nagelschneider, Nadeln und Faden bereit. Sie rollten die langen Bandagen auf, die sie zurechtgeschnitten hatten – jede war zehn Zentimeter breit, zehn Meter lang und leicht gestärkt. Dann kamen alle Frauen unseres Haushalts nach oben. Ältere Schwester kam als Letzte mit einem Eimer gekochten
Wassers, in dem Maulbeerbaumwurzel, gemahlene Mandeln, Urin, Kräuter und Wurzeln zogen. Als die Älteste trat ich zuerst vor, und ich war fest entschlossen zu zeigen, wie tapfer ich sein konnte. Mama wusch mir die Füße und rieb sie dann mit Alaun ein, damit sich das Gewebe zusammenzog und die unvermeidliche
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