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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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jenseits meiner Vorstellungskraft. Meine Füße brannten. Noch vor ein paar Minuten war ich mir meines Mutes so sicher gewesen. Nun bemühte ich mich nach Kräften, meine Tränen zurückzuhalten, aber es gelang mir nicht.
    Tante tippte Schöner Mond auf die Schulter. »Steh auf und lauf.«
    Dritte Schwester lag immer noch auf dem Boden und heulte.
    Mama zerrte mich aus dem Stuhl. Das Wort »Schmerz« beschreibt das Gefühl nicht im Mindesten. Meine Zehen waren unter meine Füße geklemmt, so dass mein ganzes Körpergewicht auf ihrer Oberseite ruhte. Ich versuchte, rückwärts auf den Fersen zu balancieren. Als Mama das sah, schlug sie mich.
    »Lauf!«
    Ich strengte mich an. Als ich zum Fenster hinüberschlurfte,
zog Mama Dritte Schwester auf die Füße, zerrte sie vor Ältere Schwester und sagte: »Geh zehnmal mit ihr hin und her.« Als ich das hörte, wurde mir klar, was mir bevorstand, und das war geradezu unvorstellbar. Meine Tante sah, was passierte, und da sie die rangniedrigste Person im Haushalt war, nahm sie ihre Tochter bei der Hand und zog sie aus dem Stuhl. Tränen liefen mir über das Gesicht, während Mama mich immer wieder durch das Frauengemach führte. Ich hörte mich selbst jammern. Dritte Schwester brüllte weiterhin und versuchte, sich von Älterer Schwester zu befreien. Großmutter, deren Aufgabe als wichtigste Person in unserem Haushalt es lediglich war, das Ganze zu beaufsichtigen, nahm Dritte Schwester am anderen Arm. Flankiert von zwei Menschen, die viel stärker waren als sie, musste Dritte Schwester physisch gehorchen, aber das bedeutete nicht, dass sie sich verbal in irgendeiner Weise zurückhielt. Nur Schöner Mond verbarg ihre Gefühle und zeigte, dass sie eine gute Tochter war, und das, obwohl auch sie keine hohe Stellung in unserem Haushalt hatte.
    Nach unseren zehn Rundgängen ließen uns Mama, Tante und Großmutter allein. Wir drei Mädchen waren fast gelähmt vor Schmerzen, und doch hatte unsere Drangsal gerade einmal begonnen. Wir konnten nichts essen. Doch selbst mit leerem Magen erbrachen wir unsere Qual. Schließlich gingen alle in unserem Haushalt zu Bett. Es war eine ungeheure Erleichterung, sich hinzulegen. Allein schon die Füße auf der gleichen Höhe wie den Rest des Körpers zu haben, war eine Wohltat. Doch während die Stunden verstrichen, kam ein neues Leiden. Unsere Füße brannten, als lägen sie in einem Kohlenbecken. Wir begannen zu wimmern. Die arme Ältere Schwester musste das Zimmer mit uns teilen. Sie tat ihr Bestes, uns mit Märchen und Geschichten zu trösten, und sie erinnerte uns auf die sanfteste Art daran, dass alle Mädchen von gutem Ansehen im ganzen großen chinesischen Reich das durchgemacht hatten, was
wir gerade durchmachten, damit sie wertvolle Frauen, Ehefrauen und Mütter wurden.
    In dieser Nacht schlief keine von uns, doch was auch immer wir am ersten Tag verspürten, war am zweiten doppelt so schlimm. Alle drei versuchten wir, unsere Bandagen zu zerreißen, aber es gelang nur Dritter Schwester, wirklich einen Fuß zu befreien. Mama schlug sie auf Arme und Beine, band den Fuß neu ein und ließ sie zur Strafe zusätzliche zehn Runden durch das Zimmer laufen. Immer wieder schüttelte Mama sie grob und fragte: »Willst du eine kleine Schwiegertochter werden? Es ist noch nicht zu spät. So eine Zukunft kann dir durchaus bevorstehen.«
    Diese Drohung hatten wir unser ganzes Leben lang gehört, aber niemand von uns hatte jemals wirklich eine kleine Schwiegertochter gesehen. Puwei war zu arm, als dass jemand ein ungewolltes, stures, großfüßiges Mädchen hätte aufnehmen können, aber wir hatten ja auch noch nie einen Fuchsgeist gesehen, und an diese glaubten wir voller Überzeugung. Also drohte Mama, und Dritte Schwester fügte sich vorübergehend.
    Am vierten Tag weichten wir unsere bandagierten Füße in einem Eimer mit heißem Wasser ein. Dann wurden die Bandagen entfernt, und Mama und Tante überprüften unsere Zehennägel, hobelten Schwielen ab, schrubbten abgestorbene Haut weg, tupften Alaun und Parfüm auf, um den Geruch unseres faulenden Fleisches zu überdecken, und dann banden sie neue, saubere Bandagen um unsere Füße, nur diesmal noch fester. Jeden Tag das Gleiche. An jedem vierten Tag das Gleiche. Alle zwei Wochen neue Schuhe – jedes Mal kleinere. Die Nachbarsfrauen kamen zu Besuch und brachten uns Klöße aus roten Bohnen vorbei, damit unsere Knochen schneller weich würden, oder getrocknete Chilischoten, damit unsere Füße ebenso

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