Seidenfächer
dann sagte sie nichts mehr. Ich tauchte das Tuch ein und legte es ihr wieder auf die Stirn, dann nahm ich ihre Hand und blieb bei ihr sitzen, bis die Sonne unterging. Die anderen Frauen waren mittlerweile gegangen, und Frühlingsmond war unten, um das Abendessen zu machen. Als ich mit Schneerose allein war, zog ich ihre Decke zurück. Ihre Krankheit hatte all das Fleisch um ihre Knochen weggefressen und es an einen Tumor verfüttert, der in ihrem Bauch zur Größe eines Babys herangewachsen war.
Nicht einmal jetzt kann ich meine Gefühle erklären. Ich war so lange gekränkt und wütend gewesen. Ich hatte geglaubt, ich könnte Schneerose niemals verzeihen, aber statt weiter darüber zu brüten, begriff ich entsetzt, dass der Schoß meiner laotong
sie wieder betrogen hatte und dass der Tumor in ihr schon seit Jahren gewachsen sein musste. Es war meine Pflicht, mich um sie zu kümmern …
Nein! So war das nicht. Ich war die ganze Zeit über gekränkt, gerade weil ich Schneerose noch liebte. Sie war die Einzige, die je meine Schwächen gesehen hatte und mich dennoch liebte. Und ich hatte sie auch dann noch geliebt, als ich sie am meisten hasste.
Ich steckte die Decke wieder fest und legte mir einen Plan zurecht. Ich musste einen anständigen Arzt holen. Schneerose sollte etwas essen, und wir brauchten einen Wahrsager. Ich wollte, dass sie kämpfte, so wie ich kämpfen würde. Du siehst schon, ich verstand also immer noch nicht, dass man keine Macht über die Liebe hat und das Schicksal eines anderen Menschen nicht ändern kann.
Ich hob Schneeroses kalte Hände an meine Lippen, dann ging ich nach unten. Der Metzger saß zusammengesunken am Tisch. Schneeroses Sohn, der zu einem Mann herangewachsen war, stand neben seiner Schwester. Ihren Gesichtsausdruck hatten sie eindeutig von ihrer Mutter – stolz, ausdauernd, duldend, flehend.
»Ich fahre jetzt nach Hause«, verkündete ich. Schneeroses Sohn verzog enttäuscht das Gesicht, aber ich hob beschwichtigend die Hand. »Morgen komme ich wieder. Bitte richtet mir einen Platz zum Schlafen her. Ich gehe hier erst wieder weg, wenn...« Ich konnte nicht weitersprechen.
Ich dachte, wir würden diesen Kampf gewinnen, wenn ich mich erst einmal eingelebt hatte, aber uns blieben nur zwei Wochen. Zwei Wochen von meinem nun achtzigjährigen Leben, zwei Wochen, um Schneerose all die Liebe zu zeigen, die ich für sie empfand. Ich verließ nicht ein einziges Mal das Zimmer. Was mein Körper aufnahm, wurde mir von Schneeroses Tochter gebracht. Was mein Körper ausschied, wurde von Schneeroses
Tochter weggebracht. Jeden Tag wusch ich zuerst Schneerose, danach wusch ich mich mit demselben Wasser. Vor vielen Jahren hatte mir eine gemeinsame Wasserschüssel gezeigt, dass Schneerose mich liebte. Jetzt hoffte ich, sie würde mir zusehen, sich an die Vergangenheit erinnern und begreifen, dass sich nichts geändert hatte.
Wenn die anderen abends gegangen waren, verließ ich die Liege, die die Familie für mich vorbereitet hatte, und legte mich neben Schneerose ins Bett. Ich umarmte sie, versuchte, ihren geschrumpften Leib ein wenig zu wärmen und ihre Qualen zu lindern, die ihren Körper so sehr plagten, dass sie selbst im Traum noch wimmerte. Jede Nacht schlief ich mit dem Wunsch ein, meine Hände wären Schwämme, die den Auswuchs in ihrem Bauch aufsaugen könnten. Jeden Morgen wachte ich auf, und ihre Hand lag auf meiner Wange, während sie mich aus ihren hohlen Augen ansah.
Viele Jahre lang hatte sich der Arzt aus Jintian um Schneerose gekümmert. Jetzt schickte ich nach meinem eigenen. Er warf nur einen Blick auf sie und schüttelte den Kopf.
»Dame Lu, sie kann nicht geheilt werden«, sagte er. »Man kann nur warten, bis der Tod eintritt. Ihr könnt das schon an der purpurnen Verfärbung ihres Fleischs über den Bandagen sehen. Zuerst die Knöchel, dann die Beine. Sie werden anschwellen, und die Haut verfärbt sich, während ihre Lebenskraft schwindet. Bald wird sie anders atmen. Ihr merkt das gleich. Einatmen, ausatmen, dann nichts mehr. Gerade wenn Ihr denkt, dass sie von Euch gegangen ist, holt sie wieder Luft. Weint nicht, Dame Lu. Wenn es soweit ist, ist das Ende nah, und sie spürt nicht einmal mehr ihre Schmerzen.«
Der Arzt ließ uns Heilkräuter für einen Tee da; ich bezahlte ihn und schwor, ihn nie mehr zu holen. Nachdem er weg war, versuchte mich Lotos, die älteste der Schwurschwestern, zu trösten. »Schneeroses Mann hat viele Ärzte geholt, aber nicht
ein Arzt,
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