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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Landkreis willen musste ich mich als großzügige Dame zeigen. Ich schickte Frühlingsmond nach Hause und versprach ihr, bald nachzukommen; dann bestellte ich eine Sänfte, die mich nach Jintian bringen sollte. Auf dem Weg dorthin wappnete ich mich für die Begegnung mit Schneerose und dem Metzger, ihrem Sohn, der mittlerweile wahrscheinlich auch geheiratet hatte, und natürlich mit den Schwurschwestern.
    Die Sänfte setzte mich vor Schneeroses Schwelle ab. Dort hatte sich nichts geändert. Ein Stapel Holz lehnte seitlich am Haus. Die Plattform mit dem eingelassenen Wok wartete auf neues Schlachtvieh. Ich zögerte, während ich das alles betrachtete. Die Gestalt des Metzgers zeichnete sich in dem dunklen Eingang ab, und dann stand er vor mir – älter, sehniger, doch in vielerlei Hinsicht noch derselbe.
    »Ich kann sie nicht leiden sehen«, waren die ersten Worte, die er nach acht Jahren zu mir sagte. Grob fuhr er sich mit dem Handrücken über seine feuchten Augen. »Sie hat mir einen Sohn geschenkt, der mich in meinem Beruf unterstützt hat. Sie hat mir eine brave und wertvolle Tochter geschenkt. Sie hat mein Haus schöner gemacht. Sie hat sich um meine Mutter gekümmert, bis sie starb. Sie hat alles getan, was eine Ehefrau tun sollte, aber ich war grausam zu ihr, Dame Lu. Das wird mir jetzt klar.« Dann strich er an mir vorbei und fügte hinzu: »In der Gesellschaft von Frauen hat sie es besser.« Ich sah ihn in Richtung der Felder gehen, dem einzigen Ort, an dem ein Mann mit seinen Gefühlen allein sein kann.

    Noch nach all diesen Jahren fällt es mir schwer, daran zu denken. Ich dachte, ich hätte Schneerose ganz aus meinem Gedächtnis getilgt und aus meinem Herzen herausgeschnitten. Ich hatte wahrhaftig geglaubt, ich würde ihr nie vergeben, weil sie die Schwurschwestern mehr geliebt hatte als mich. Doch in dem Augenblick, in dem ich Schneerose auf ihrem Bett liegen sah, waren alle diese Gedanken und Gefühle wie weggewischt. Die Zeit – das Leben – war grausam zu ihr gewesen. Ich war auch eine ältere Frau, sicher, aber durch Cremes und Puder war meine Haut zart geblieben, zudem war ich beinahe ein Jahrzehnt lang vor der Sonne geschützt gewesen, und meine Kleider verrieten dem ganzen Landkreis, wer ich war. Im Bett an der Wand gegenüber lag Schneerose, ein altes Weib in Lumpen. Im Gegensatz zu ihrer Tochter, deren Gesicht mir sofort vertraut vorgekommen war, hätte ich Schneerose nicht wiedererkannt, wenn ich sie vor dem Gupotempel auf der Straße gesehen hätte.
    Ja, auch die anderen Frauen waren da – Lotos, Weide und Pflaumenblüte. Wie ich all die Jahre vermutet hatte, waren Schneeroses Schwurschwestern die Frauen, die mit uns in den Bergen unter dem Baum gelebt hatten. Wir begrüßten uns nicht.
    Als ich mich dem Bett näherte, erhob sich Frühlingsmond und trat zur Seite. Schneerose hatte die Augen geschlossen, und ihre Haut war totenbleich. Unschlüssig sah ich ihre Tochter an. Das Mädchen nickte, und ich nahm Schneeroses kalte Hand. Sie regte sich, ohne die Augen zu öffnen, dann leckte sie sich die aufgesprungenen Lippen.
    »Ich spüre …« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie einen bestimmten Gedanken vertreiben.
    Leise rief ich ihren Namen, dann drückte ich ganz sanft ihre Finger.
    Meine laotong schlug die Augen auf und versuchte, scharf zu sehen, denn zunächst glaubte sie nicht, wer da vor ihr stand.
»Ich habe deine Berührung gespürt«, murmelte sie schließlich. »Ich wusste, dass du das bist.« Ihre Stimme war schwach, doch beim Sprechen fielen die Jahre des Schmerzes und Entsetzens von ihr ab. Hinter den Spuren der Zerstörung durch die Krankheit sah und hörte ich das kleine Mädchen, das mich vor all den Jahren eingeladen hatte, ihre laotong zu werden.
    »Ich habe dich rufen hören«, log ich. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.«
    »Ich habe gewartet.«
    Sie verzerrte gequält das Gesicht. Ihre andere Hand krampfte sich auf ihrem Bauch zusammen, und sie zog im Reflex die Beine hoch. Schneeroses Tochter tauchte wortlos ein Tuch in eine Schüssel mit Wasser, wrang es aus und reichte es mir. Ich wischte ihr damit den Schweiß von der Stirn, der sich während des Krampfs gebildet hatte.
    Trotz ihrer schrecklichen Schmerzen redete sie. »Es tut mir alles sehr Leid, aber du sollst wissen, dass meine Liebe zu dir nie ins Wanken geraten ist.«
    Während ich ihre Entschuldigung annahm, kam ein weiterer Krampfanfall, diesmal noch schlimmer als der erste. Sie schloss die Augen,

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