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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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sich geweigert, den Frauen im Haushalt ihres Mannes unsere geheime Schrift beizubringen. Diese Frau, die eure Nachbarin war, hat mir als Mädchen in ihren Tochtertagen Lügen über ihre Lebensumstände erzählt, sie hat als junge Frau in den Tagen des Haarehochsteckens gelogen,
und sie lügt weiter als Ehefrau und Mutter in ihren Reis-und-Salz-Tagen. Sie hat nicht nur euch alle angelogen, sondern auch ihre laotong .«
    Ich musterte die Gesichter der Frauen um mich herum. »Wie verbringt sie ihre Zeit? Ich sage euch, wie! Mit ihrer Lust! Tiere haben ihre Brunstzeiten, aber diese Frau ist immer brünstig. Bei ihren Brunftschreien verstummt der ganze Haushalt. Als wir in den Bergen waren, auf der Flucht vor den Rebellen«, ich lehnte mich vor, und die anderen beugten sich zu mir, »hat sie lieber mit ihrem Mann das Liebesspiel betrieben, als bei mir zu sein – ihrer laotong . Sie sagt, sie muss in einem früheren Leben schlimme Taten begangen haben, aber ich als Dame Lu sage euch, dass ihre schlimmen Taten in diesem Leben für ihr Schicksal verantwortlich sind.«
    Schneerose saß mir gegenüber, und Tränen liefen ihr über die Wangen, aber ich war so verzweifelt und durcheinander, dass ich nur meine Wut zeigen konnte.
    »Als Mädchen haben wir einen Vertrag niedergeschrieben«, schloss ich. »Du hast ein Versprechen gegeben und es gebrochen.«
    Schneerose holte tief und zitternd Luft. »Du hast mich einmal darum gebeten, dass ich dir immer die Wahrheit sage, aber wenn ich das tue, missverstehst du mich, oder es gefällt dir nicht, was du hörst. In meinem Dorf habe ich Frauen gefunden, die nicht auf mich herabschauen. Sie kritisieren mich nicht. Sie erwarten nicht von mir, dass ich jemand bin, der ich nicht bin.«
    Jedes ihrer Worte bestärkte mich nur in allem, was ich vermutet hatte.
    »Sie erniedrigen mich nicht vor anderen«, fuhr Schneerose fort. »Ich habe mit ihnen gestickt, und wir trösten einander, wenn wir Sorgen haben. Sie bemitleiden mich nicht. Sie besuchen mich, wenn es mir nicht gut geht … Ich bin einsam und allein. Ich brauche Frauen, die täglich für mich da sind, nicht
nur dann, wenn es dir beliebt. Ich brauche Frauen, die mir so zuhören, wie ich bin, und nicht, wie sie mich in Erinnerung haben oder wie ich sein soll. Ich fühle mich wie ein Vogel, der allein fliegt. Ich kann meinen Gefährten nicht finden...«
    Ihre leisen Worte und sanften Entschuldigungen waren genau das, wovor ich mich fürchtete. Ich schloss die Augen und versuchte meine Gefühle auszusperren. Zu meinem Schutz musste ich an meinem Groll ebenso festhalten wie damals bei meiner Mutter. Als ich die Augen öffnete, war Schneerose aufgestanden und schwankte anmutig zur Treppe. Als Ehrenwerte Frau Wang ihr nicht folgte, verspürte ich plötzlich Mitleid. Nicht einmal ihre eigene Tante, die Einzige unter uns, die allein mit ihrem Verstand für sich selbst sorgte, spendete ihr Trost.
    Als Schneerose Stufe um Stufe die Treppe hinunterverschwand, schwor ich mir, sie nie mehr wiederzusehen.
     
    Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, weiß ich, dass ich in meinen Pflichten als Frau schrecklich versagt habe. Was sie getan hatte, war unverzeihlich, aber was ich gesagt hatte, war verachtenswert. Ich hatte mich von meiner Wut, meiner Verletztheit und schließlich meinen Rachegelüsten steuern lassen. Ironischerweise führten genau die Dinge, die mich beschämten und die ich später sehr bedauerte, dazu, dass ich vollends zur Dame Lu wurde. Meine Nachbarinnen hatten meine Tapferkeit gesehen, als mein Mann in Guilin war. Sie wussten, wie ich mich während der Epidemie um meine Schwiegermutter gekümmert hatte und dass ich meinen Schwiegereltern bei ihrer Beerdigung allen Respekt erwiesen hatte. Sie hatten beobachtet, dass ich, nachdem ich den Winter in den Bergen überlebt hatte, Lehrer in die umliegenden Dörfer schickte, in fast jedem Haus in Tongkou an Zeremonien teilnahm und meine Sache als Frau des Oberhaupts im Allgemeinen gut machte. Doch an diesem Tag hatte ich mir wirklich den Respekt verdient, der einem als
Dame Lu gebührte, indem ich das getan hatte, was alle Frauen für unser Land tun sollen, was ihnen aber nur selten gelingt. Eine Frau muss in Sachen Anstand und rechter Denkungsart im inneren Bereich ein Vorbild darstellen. Wenn sie Erfolg hat, wird dies von ihrer Tür zur nächsten Tür weitergetragen, so dass sich nicht nur Frauen und Kinder gut benehmen, sondern auch unsere Männer dazu inspiriert werden, das äußere Reich

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