Seidenfächer
nicht zwei Ärzte, auch nicht drei Ärzte könnten jetzt noch etwas für sie tun.«
Die alte Wut stieg wieder in mir auf, aber ich erkannte Mitleid und Mitgefühl in Lotos’ Gesicht, und zwar nicht nur für Schneerose, sondern auch für mich.
Mir fiel ein, dass das Bittere der Geschmack war, der am meisten dem Prinzip des yin entsprach. Es führte Kontraktionen herbei, wirkte fiebersenkend und beruhigte Herz und Geist. Überzeugt davon, dass man mit Bittermelone Schneeroses Krankheit Einhalt gebieten konnte, bat ich ihre Schwurschwestern, gebratene Bittermelone mit Schwarze-Bohnen-Sauce und Bittermelonensuppe zuzubereiten. Die drei Frauen kamen meiner Bitte nach. Ich setzte mich auf Schneeroses Bett und fütterte sie mit dem Löffel. Zuerst aß sie ohne Widerspruch. Dann presste sie die Lippen zusammen und schaute weg, als wäre ich gar nicht da.
Die mittlere Schwurschwester zog mich beiseite. Oben an der Treppe nahm mir Weide die Schüssel aus der Hand und flüsterte: »Dafür ist es zu spät. Sie will nichts essen. Ihr müsst versuchen, sie gehen zu lassen.« Weide tätschelte mir freundlich das Gesicht. Später an diesem Tag sollte sie diejenige sein, die Schneeroses erbrochene Bittermelone aufwischte.
Mein nächster und letzter Plan bestand darin, den Wahrsager zu holen. Er betrat das Zimmer und verkündete: »Ein Geist hat sich an den Leib Eurer Freundin geklammert. Keine Sorge. Wir werden ihn zusammen aus dem Zimmer vertreiben, dann ist sie geheilt. Frau Schneerose«, sagte er und beugte sich über das Bett, »singt diese Wörter.« Uns anderen befahl er: »Kniet Euch hin und betet.«
Also fielen Frühlingsmond, Ehrenwerte Frau Wang – ja, die alte Kupplerin war die meiste Zeit ebenfalls da -, die drei Schwurschwestern und ich auf die Knie und beteten und sangen zur Göttin der Gnade, während Schneerose schwach ihre
Zeilen wiederholte. Als der Wahrsager sah, dass wir taten, wie uns geheißen, zog er ein Stück Papier aus der Tasche, schrieb ein paar Sprüche darauf, zündete es an und lief im Zimmer hin und her, um den hungrigen Geist zu vertreiben. Dann durchschnitt er den Rauch mit einem Schwert: wusch, wusch, wusch . »Weg mit dem Geist! Weg mit dem Geist! Weg mit dem Geist!«
Doch es half nichts. Ich bezahlte den Wahrsager und sah von Schneeroses Gitterfenster aus zu, wie er in seinen Ponykarren stieg und abzog. Ich schwor, dass ich von nun an Wahrsager nur holen wollte, um günstige Tage zu bestimmen.
Pflaumenblüte, die dritte und jüngste der Schwurschwestern, kam zu mir. »Schneerose tut alles, worum Ihr sie bittet. Aber ich hoffe, Ihr versteht, dass sie diese Dinge nur für Euch tut, Dame Lu. Diese Qualen dauern schon zu lange an. Wenn sie ein Hund wäre, würdet Ihr sie so leiden lassen?«
Schmerz gibt es auf vielen Ebenen: die körperlichen Qualen, die Schneerose ertrug, den Kummer, sie leiden zu sehen und zu glauben, dass ich das keinen Moment länger aushielt, die schreckliche Reue, die ich wegen der Dinge empfand, die ich ihr vor acht Jahren gesagt hatte – und zu welchem Zweck? Um von den Frauen in meinem Dorf respektiert zu werden? Um Schneerose wehzutun, wie sie mir wehgetan hatte? Oder war es eine Frage des Stolzes – wenn sie mit mir nicht zusammen sein wollte, dann sollte sie mit gar niemandem zusammen sein? Ich hatte in jeder Hinsicht Unrecht gehabt – auch im letzten Punkt, denn an diesen langen Tagen sah ich, wie viel Trost die anderen Frauen Schneerose spendeten. Sie waren nicht wie ich erst im letzten Moment gekommen; sie hatten sich seit vielen Jahren um sie gekümmert. Ihre Großzügigkeit – in Form von kleinen Reissäckchen, geschnittenem Gemüse und gesammeltem Brennholz – hatte sie am Leben erhalten. Und nun kamen sie jeden Tag und vernachlässigten ihre Pflichten zu Hause. Unsere ganz besondere Beziehung störte sie nicht. Stattdessen waren
sie einfach nur da wie gute Geister, beteten und zündeten Feuer an, um die Geister zu vertreiben, die es auf Schneerose abgesehen hatten, ließen uns dabei aber immer in Ruhe.
Ich muss geschlafen haben, aber ich erinnere mich nicht daran. Wenn ich mich nicht um Schneerose kümmerte, arbeitete ich an Begräbnisschuhen für sie. Ich wählte Farben, von denen ich wusste, dass sie ihr gefallen würden. Ich fädelte das Garn ein und bestickte einen der Schuhe mit einer Lotosblüte für beständig und einer Leiter für klettern , um darzustellen, dass Schneerose auf stetem Weg in den Himmel war. Auf den anderen Schuh stickte ich
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