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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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kleine Rehe und Fledermäuse mit spitzen Flügeln – Symbole für ein langes Leben, die auch auf Hochzeitsgewänder gestickt oder bei Geburtstagen aufgehängt werden -, um Schneerose wissen zu lassen, dass ihr Blut durch ihren Sohn und ihre Tochter auch noch nach ihrem Tod weitergetragen wurde.
    Schneerose verfiel zusehends. Als ich nach meiner Ankunft ihre Füße gewaschen und neu gebunden hatte, hatte ich gesehen, dass ihre eingerollten Zehen bereits dunkelrot waren. Wie der Arzt vorhergesagt hatte, kroch diese schreckliche Todesfarbe nun schon bis in ihre Waden hinauf. Ich wollte Schneerose dazu bringen, gegen die Krankheit anzukämpfen. Am Anfang hatte ich sie noch ermuntert, mit ihrem Pferdewesen gegen die Geister anzugehen, die sie für sich beanspruchen wollten. Doch wir konnten ihr nur noch den Weg ins Jenseits leichter machen.
    Yonggang bekam das alles mit, wenn sie jeden Morgen kam und frische Eier, saubere Kleider und Nachrichten von meinem Mann brachte. Sie war viele Jahre gehorsam und treu gewesen, doch nun stellte sich heraus, dass sie mir einmal die Treue gebrochen hatte, und dafür werde ich immer dankbar sein. Drei Tage bevor Schneerose starb, kam Yonggang wie immer frühmorgens vorbei, kniete sich vor mich hin und legte mir einen Korb zu Füßen.
    »Ich habe Euch vor vielen Jahren zugeschaut, Dame Lu«,
sagte sie, und ihre Stimme brach vor Angst. »Ich wusste, Ihr könnt nicht ernst meinen, was Ihr da tut.«
    Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete oder warum sie gerade diesen Augenblick für ihr Geständnis gewählt hatte. Doch dann zog sie das Tuch von dem Korb weg, langte hinein und holte Briefe, Taschentücher, Stickarbeiten und den Seidenfächer von Schneerose und mir hervor. All das hatte ich damals zusammengesucht, als ich unsere Vergangenheit verbrannte. Aber dieses Dienstmädchen hatte es damals, als ich mir »die Krankheit aus dem Herzen schneiden« wollte, riskiert, auf die Straße gesetzt zu werden, um die Sachen zu retten, und hatte sie all diese Jahre sicher aufbewahrt.
    Als sie das sahen, huschten Frühlingsmond und die Schwurschwestern durch das Zimmer, langten in Schneeroses Stickkorb, durchsuchten Schubladen und schauten unter das Bett, um geheime Verstecke zu finden. Bald lagen alle Briefe, die ich je an Schneerose geschrieben, und alles, was ich je für sie gefertigt hatte, vor mir. Am Ende war alles da – bis auf das, was ich damals zerstört hatte.
    Am letzten Tag von Schneeroses Leben nahm ich uns mit auf eine Reise durch unser gemeinsames Leben. Wir konnten beide so viel auswendig, dass wir ganze Passagen zitieren konnten, aber ihre Kraft ließ schnell nach, und sie hielt den Rest der Zeit nur meine Hand und hörte zu.
    Als wir nachts zusammen im Bett unter dem Gitterfenster lagen, gebadet in Mondlicht, wurden wir zurück in unsere Tage des Haarehochsteckens versetzt. Ich schrieb ihr Nushu-Zeichen auf die Handfläche. Der Mond scheint auf das Bett ...
    »Was habe ich geschrieben?«, fragte ich. »Sag mir die Zeichen.«
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich kann es nicht erkennen …«
    Also sagte ich das Gedicht auf und sah zu, wie Schneerose
Tränen aus den Augenwinkeln rannen, über ihre Schläfen liefen und in den Ohren verschwanden.
    Bei unserem letzten Gespräch fragte sie: »Könntest du etwas für mich tun?«
    »Alles«, antwortete ich, und das meinte ich auch.
    »Bitte sei meinen Kindern eine Tante.«
    Ich versprach es ihr.
    Es gab nichts, was gegen Schneeroses Leiden half oder es ihr erleichterte. In den letzten Stunden las ich ihr unseren Vertrag vor und rief ihr ins Gedächtnis, wie wir zum Gupotempel gegangen waren und das rote Papier gekauft hatten, wie wir uns zusammen hingesetzt und den Text entworfen hatten. Ich las ihr unsere Briefe noch einmal vor. Ich las die glücklichen Stellen aus unserem Seidenfächer. Ich summte alte Melodien aus unserer Kindheit. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte und dass ich hoffte, sie würde im Jenseits auf mich warten. Ich geleitete sie mit meinen Worten bis an den Rand des Himmels; einerseits wollte ich noch nicht, dass sie ging, und doch sehnte ich mich danach, sie in die Wolken zu entlassen.
    Schneeroses gespenstisch weiße Haut färbte sich golden. Ein Leben voller Sorgen wich aus ihrem Gesicht. Die Schwurschwestern, Frühlingsmond, Ehrenwerte Frau Wang und ich lauschten Schneeroses Atem: einatmen, ausatmen, dann nichts. Sekunden vergingen: dann einatmen, ausatmen, nichts. Noch weitere entsetzliche Sekunden,

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