Seidenfächer
Schwelle in Frau Wangs Sänfte gestiegen, und ich hatte in unserem Garten Gemüse geerntet. Doch abgesehen davon durfte ich lediglich vom Gitterfenster aus auf die Gasse schauen, die an unserem Haus vorbeiführte. Ich hatte den Rhythmus des Dorfes schon zu lange nicht mehr gespürt.
Wir waren überglücklich – wir schwitzten zwar noch, aber wir waren glücklich. Als wir im Schatten saßen und endlich eine kühle Brise spürten, wie es das Fest versprach, bestickten wir die Oberseite von Schuhen oder legten letzte Hand an deren Gestaltung an. Schöner Mond konzentrierte sich auf die Arbeit an ihren roten Hochzeitsschuhen, die wertvollsten Schuhe von allen. Rosa und weiße Lotosblumen erblühten, die Schöner Monds Reinheit und Fruchtbarkeit symbolisierten. Schneerose hatte gerade ein Paar aus himmelblauer Seide mit Wolkenmuster
für ihre Schwiegermutter fertig gestellt. Zierlich und elegant standen sie neben uns auf der Decke, eine kleine Mahnung an die hohe Qualität, auf die wir bei all unseren Arbeiten Wert legen sollten. Sie erfüllten mich mit Freude, denn sie erinnerten mich an die Jacke, die Schneerose an dem Tag, an dem wir uns kennen gelernt hatten, getragen hatte. Aber nostalgische Gedanken schienen Schneerose nicht weiter zu interessieren, denn sie arbeitete schon an einem Paar Schuhe für sich selbst, für das sie purpurne Seide mit weißem Saum verwendet hatte. Wenn man die Zeichen für Purpur und Weiß zusammenschrieb, bedeutete das viele Kinder . Wie so oft ließ sich Schneerose bei ihren Verzierungen vom Himmel inspirieren. Diesmal stickte sie Vögel und andere fliegende Wesen, die auf den kleinen Abschnitten ihre Kreise zogen. Ich machte währenddessen Schuhe für meine Schwiegermutter fertig. Ihre Füße waren eine Idee größer als meine, und es erfüllte mich mit Stolz, dass sie mich allein aufgrund meiner Füße für ihres Sohnes würdig befunden haben musste. Ich hatte meine Schwiegermutter noch nicht kennen gelernt, deshalb wusste ich nicht, was sie mochte und was nicht, aber in der Hitze dieser Tage konnte ich an nichts anderes als an Kühle denken. Das Muster, das sich um den Schuh herum zog, ließ eine Landschaft erstehen, in der sich Frauen unter Weiden an einem Bach ausruhen. Es war eine Phantasie, aber auch nicht mehr als die mythischen Vögel, die Schneeroses Schuhe zierten.
Wir gaben ein hübsches Bild ab, wie wir da mit untergeschlagenen Beinen auf diesen Decken saßen: drei junge Mädchen, allesamt guten Familien versprochen, die fröhlich an ihrer Mitgift arbeiteten und alle Besucher höflich empfingen. Kleine Jungen blieben stehen und unterhielten sich mit uns, wenn sie unterwegs waren, um Feuerholz zu sammeln oder die Wasserbüffel ihrer Familie zum Fluss führten. Kleine Mädchen, die sich um ihre Geschwister kümmern mussten, ließen uns
ihre kleinen Brüder oder Schwestern halten. Wir stellten uns vor, wie es wäre, selbst einmal ein Baby zu haben. Alte Witwen mit gesichertem Status kamen herbeigewackelt, um zu klatschen, unsere Stickarbeiten zu begutachten und Bemerkungen über unsere blasse Haut zu machen.
Am fünften Tag stattete uns Ehrenwerte Frau Gao einen Besuch ab. Sie war gerade aus dem Dorf Getan zurückgekommen, wo sie wegen einer Heirat verhandelte. Dort hatte sie auch Briefe von uns an Ältere Schwester übergeben und einen Brief von Älterer Schwester an uns in Empfang genommen. Niemand von uns mochte Ehrenwerte Frau Gao, aber wir waren dazu erzogen worden, Ältere zu achten. Wir boten ihr Tee an, aber sie lehnte ab. Da mit uns kein Geld zu machen war, reichte sie mir den Brief und stieg wieder in ihre Sänfte. Wir schauten ihr nach, bis sie um die Ecke gebogen war, dann schlitzte ich mit meiner Sticknadel das Siegel aus Reispaste auf. Wegen der späteren Ereignisse an diesem Tag und weil Ältere Schwester so viele Standard-Nushu-Sätze verwendete, kann ich mit einiger Gewissheit rekonstruieren, was sie schrieb:
Liebe Familie,
heute nehme ich einen Pinsel zur Hand, und mein Herz fliegt nach Hause.
Ich schreibe an meine Familie – viele Grüße an die lieben Eltern, Tante und Onkel.
Wenn ich an vergangene Tage denke, hören meine Tränen nicht auf zu fließen.
Ich bin immer noch traurig, weil ich von zu Hause weggehen musste.
Mein Bauch ist dick von dem Baby darin, und ich schwitze sehr bei diesem Wetter.
Meine Schwiegereltern sind boshaft.
Ich verrichte die ganze Hausarbeit allein.
In dieser Hitze ist es unmöglich, es ihnen recht zu machen.
Weitere Kostenlose Bücher