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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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legen konnte, um sie zu trösten. Vor den Augen meiner Schwiegermutter und der anderen Frauen im oberen Gemach nahm ich ein Stück Papier und
mischte Tusche. Bevor ich den Pinsel zur Hand nahm, las ich Schneeroses Brief noch einmal. Beim ersten Mal war mir nur ihre Traurigkeit aufgefallen. Doch nun sah ich deutlich, dass sie von den traditionellen stilisierten Zeilen, die Ehefrauen in ihren Briefen benutzen, abgewichen war und die Nushu-Zeichen verwendete, um offener und direkter von ihrem Leben zu erzählen.
    Durch ihre Kühnheit wurde mir der wahre Sinn unserer Geheimschrift offenbar. Es ging gar nicht darum, einander mädchenhafte Nachrichten zu schreiben, und auch nicht, uns den Frauen in der Familie unseres Mannes vorzustellen. Wir sollten eine Stimme bekommen. Unser Nushu war eine Möglichkeit für unsere gebundenen Füße, uns einander näher zu bringen, eine Möglichkeit für unsere Gedanken, über die Felder zu fliegen, wie Schneerose es ausgedrückt hatte. Die Männer in unserem Haushalt gingen davon aus, dass wir nie etwas Wichtiges zu sagen hatten. Sie gingen davon aus, dass wir nie Gefühle hatten oder schöpferische Gedanken äußerten. Die Frauen – unsere Schwiegermütter und die anderen – stellten uns noch größere Hindernisse in den Weg. Doch von nun an hoffte ich, dass Schneerose und ich uns die Wahrheit über unser Leben schreiben konnten, ob wir nun zusammen oder getrennt waren. Ich wollte die vorgefertigten Phrasen sein lassen, die unter Ehefrauen in ihren Reis-und-Salz-Tagen so verbreitet waren. Stattdessen wollte ich ausdrücken, was ich wirklich dachte. Wir würden so schreiben, wie wir miteinander gesprochen hatten, als wir im oberen Gemach meines Elternhauses die Köpfe zusammensteckten.
    Ich musste Schneerose sehen und ihr sagen, dass alles wieder besser werden würde. Doch wenn ich sie gegen den Willen meiner Schwiegermutter besuchte, würde ich einen der schlimmstmöglichen Verstöße begehen. Heimlich Briefe zu schreiben oder zu lesen war nichts im Vergleich dazu, aber ich musste es tun, wenn ich meine laotong sehen wollte.

    Liebe Schneerose,
     
    ich weine, wenn ich mir dich an diesem Ort vorstelle.
    So viel Hässliches in deinem Leben hast du nicht verdient. Wir müssen uns sehen. Bitte komm in mein Elternhaus, wenn das Vertreiben der Vögel gefeiert wird. Wir bringen unsere Söhne mit. Wir werden wieder glücklich sein.
    Du wirst deine Mühsal vergessen. Denke daran, neben einer Quelle leidet man keinen Durst. Neben einer Schwester verzweifelt man nicht. In meinem Herzen bin ich auf ewig deine Schwester.
    Lilie
    Im oberen Gemach heckte ich nun Pläne aus, aber ich hatte auch Angst. Die einfachste Lösung schien die beste zu sein – ich würde Schneerose mit meiner Sänfte auf dem Weg nach Hause abholen -, aber das wäre auch der einfachste Weg, erwischt zu werden. Die Konkubinen könnten durch das Gitterfenster sehen, wie meine Sänfte nach Jintian abbog. Noch gefährlicher war, dass viele Frauen, die zu dem Fest in ihr Heimatdorf zurückkehrten, auf der Straße unterwegs sein würden – auch meine Schwiegermutter. Jeder könnte uns sehen, jeder könnte uns anschwärzen, nur um sich bei der Familie Lu einzuschmeicheln. Doch als das Fest schließlich bevorstand, hatte ich all meinen Mut zusammengenommen und glaubte an unseren Erfolg.
     
    Der erste Tag des zweiten Mondmonats markierte den Beginn der Ackerbausaison und damit auch das Vertreiben der Vögel. Am Morgen dieses Festtags standen die Frauen in unserem Haushalt zeitig auf, um Klebreisbällchen zu machen; draußen warteten die Vögel darauf, dass die Männer mit der Aussaat der
Reispflanzen begannen. Ich arbeitete neben meiner Schwiegermutter und drückte die Bällchen zusammen, um mit diesem Reis eine größere Menge Reis zu schützen, das wertvollste der alltäglichen Grundnahrungsmittel. Als die Zeit gekommen war, trugen die unverheirateten Frauen von Tongkou das Festmahl für die Vögel nach draußen und verteilten die auf Stöcke aufgespießten Bällchen auf den Feldern, um die Vögel anzulocken, während die Männer am Rand der Felder vergiftete Körner ausbrachten, damit die Vögel sich weiter voll fraßen. Gerade als die Vögel die ersten tödlichen Körner aufpickten, stiegen die verheirateten Frauen von Tongkou in Sänften, auf Karren oder kletterten auf den Rücken großfüßiger Frauen, um über die Felder in ihre Heimatdörfer gebracht zu werden. Die alten Frauen sagen uns, wenn wir nicht weggehen, fressen

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