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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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über den Himmel fliegen.
     
    Lilie
    In ihrem nächsten Brief erwähnte Schneerose nichts anderes über ihre neue Familie, als dass ihr Sohn nun sitzen konnte. Am Ende fragte sie mich wieder über mein neues Leben aus:
    Erzähl mir von deinen Mahlzeiten und worüber ihr
sprecht.
Rezitieren sie die Klassiker beim Essen?
Unterhält deine Schwiegermutter die Männer mit
Geschichten?
Singt sie ihnen vor, um ihnen die Verdauung zu erleichtern?
    Ich bemühte mich, wahrheitsgemäß zu antworten. Die Männer in meinem Haushalt besprachen die Finanzen – welche zusätzlichen Grundstücke sie pachten konnten, wer sie bestellen würde, wie viel Miete sie verlangen sollten, was sie an Steuern zahlen mussten. Sie hatten den Wunsch »aufzusteigen«, »zum Gipfel des Berges zu gelangen«. Jede Familie bittet an Neujahr darum und bereitet spezielle Gerichte zu, damit diese Wünsche in Erfüllung gehen – in dem Wissen, dass sie genau das sind, nämlich Wünsche. Aber meine Schwiegereltern arbeiteten sehr hart dafür, dass sie wahr wurden. Darum drehten sich die langweiligen Gespräche, die ich nicht verstand und die ich auch nicht verstehen wollte. Sie besaßen bereits mehr als sonst jemand in Tongkou. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie außerdem noch begehren könnten, und doch wandten sie den Blick niemals vom »Gipfel des Berges« ab.

    Ich hoffte, dass Schneerose jetzt glücklicher war, wo sie sich – wie alle Ehefrauen – an Umstände anpassen musste, die völlig anders waren als alles, was sie bisher gekannt hatte. Als ich eines düsteren Nachmittags meinen Sohn stillte, hörte ich die Sänfte der Ehrenwerten Frau Wang vor unserer Schwelle halten. Ich erwartete, sie die Treppe hochkommen zu hören. Stattdessen kam meine Schwiegermutter herauf und ließ mit missbilligender Miene einen Brief auf den Tisch neben mir fallen. Sobald mein Sohn eingeschlafen war, zog ich die Öllampe näher zu mir heran und öffnete den Brief. Ich merkte sofort, dass er anders ausgeführt war. Ängstlich begann ich zu lesen.
    Liebe Lilie,
     
    ich sitze oben und weine. Draußen höre ich, wie mein Mann ein Schwein tötet. Er verletzt die Reinheitsgebote damit noch mehr.
    Als ich eingeheiratet habe, zwang mich meine Schwiegermutter, mich auf die Plattform vor dem Haus zu stellen und beim Schlachten eines Schweins zuzusehen, damit ich wusste, wovon wir leben. Mein Mann und mein Schwiegervater brachten das Schwein zu unserer Schwelle. Es hing kopfüber an einer Stange, die mein Schwiegervater und mein Mann auf der Schulter trugen. Das Schwein hing zwischen ihnen und quiekte ganz entsetzlich. Es wusste, was ihm bevorstand. Ich habe diese Laute nun schon oft gehört, denn die Tiere wissen genau, was kommt, und ihre Schreie hallen viel zu häufig durch unser Dorf.
    Mein Schwiegervater drückte das Schwein neben einem großen, mit kochendem Wasser gefüllten Wok nach unten. (Erinnerst du dich an den Wok vor unserem Haus?
    Der in die Plattform eingelassen ist? Darunter ist ein Kohlebecken.) Dann schnitt mein Mann dem Schwein die Kehle
durch. Zuerst fing er das Blut für Blutsuppe auf, dann schob er den Kadaver in den Wok. Das Schwein wurde gekocht, damit die Haut weich wurde. Mein Mann wollte, dass ich die Haare davon abkratzte. Ich schrie ganz laut, aber nicht so laut wie das Schwein vorher. Ich weigerte mich, diese unreine Handlung je wieder mit anzusehen oder daran teilzuhaben. Meine Schwiegermutter schimpfte mit mir, weil ich so empfindlich war.
    Ich werde mit jedem Tag mehr wie Ehefrau Wang. Erinnerst du dich noch, wie meine Tante uns diese Geschichte erzählt hat? Ich bin Vegetarierin. Meinen Schwiegereltern ist das egal. Dann bleibt ihnen mehr Fleisch.
    Ich bin allein auf der Welt, bis auf dich und meinen Sohn. Ich wünschte, ich hätte dich nie angelogen. Ich habe versprochen, dir immer die Wahrheit zu sagen, aber ich mag es nicht, dass du weißt, wie hässlich mein Leben ist. Ich sitze am Gitterfenster und blicke über die Felder in mein Heimatdorf. Ich stelle mir vor, wie du an deinem Fenster sitzt und auch zu mir schaust. Mein Herz fliegt über die Felder hinüber zu dir. Sitzt du dort? Siehst du mich? Spürst du mich?
    Ohne dich bin ich traurig. Es wäre schön, wenn du mir schreibst oder mich besuchst.
    Schneerose
    Das war entsetzlich! Ich schaute aus dem Gitterfenster nach Jintian hinüber und wünschte, ich könnte Schneerose zumindest sehen. Es war schrecklich für mich zu wissen, dass sie litt und dass ich nicht die Arme um sie

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