Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
tiefe Stimme und Isabelle kam der Aufforderung nach. Im ersten Moment war es hell. Isabelle blinzelte und versuchte ihren Blick zu fokussieren. Sie lag auf einem ausgebreiteten Futon auf dem Boden. Eine Seidendecke reichte bis zu ihrem Bauchnabel, und sie trug einen Yukata, eine sommerliche, leichtere Variante des Kimono. Jemand hatte den Bademantel gegen das japanische Kleidungsstück ausgetauscht. Ebenso traditionell wie der Yukata war auch der Raum, in dem Isabelle lag ... und der Mann, der neben dem Futon kniete. Er trug ebenfalls einen Yukata und darüber einen weiten Hosenrock, einen Hakama. Sein Körper vermittelte den Eindruck eines angespannten Raubtiers; er kniete zwar ruhig neben ihr, doch schien er jeden Augenblick zum Sprung bereit. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten und einige Strähnen hingen ihm in die Stirn, ganz so, als hätte er bis vor Kurzem noch Sport getrieben oder käme gerade aus der Dusche. Die hochgerollten Yukata-Ärmel offenbarten große Hände und leicht gebräunte, kräftige Unterarme. Der Ausschnitt war leicht geöffnet, und Isabelle konnte eine ebenso gebräunte, straffe Brust erahnen. Sein Gesicht war entspannt und vereinte vollendete asiatische Züge: hohe Wangenknochen, breiter Kiefer, ein sinnlicher Mund und dunkle Augen, die Isabelle ruhig musterten. Sie hatte sich, wenn sie nicht an Shin dachte, immer wieder ausgemalt, wie ihr geheimnisvoller Verführer wohl aussehen mochte. Der Mann neben ihr übertraf jede Vorstellung. Isabelle war von diesem Anblick so überrascht, dass sie vergaß, etwas zu sagen.
„Geht es Ihnen besser, Lérand-san?“, brach er das Schweigen, und sie fuhr sich über die Stirn. Ihre Finger wurden feucht. „Ja … ja, es geht“, murmelte sie und setzte sich auf. Es ging ihr wirklich besser; ihr Kopf schrie nicht mehr bei jeder Bewegung auf. Stattdessen kehrten die Fragen zurück. „Wer sind Sie? Und wo bin ich hier?“, fragte sie und sah ihn an.
Er lächelte nicht, sondern nickte unmerklich, als hätte er mit diesen Fragen gerechnet. „Sie sind hier in meinem Privathaus in Nikkō, einem alten Gutshof“, erklärte er, „und mein Name ist Toshinaka Isami.“ Er verneigte sich leicht, die Hände auf den Knien. „Die Unannehmlichkeiten bitte ich zu verzeihen – Gewalt ist für die Yakuza eigentlich die letztmögliche Option.“
Isabelle spürte einen kalten Schauer ihren Rücken hinabstreichen. Yakuza! Kyo und Tomo hatten also recht gehabt. Und sie hatte nicht hören wollen und musste weiter nachbohren. Im Stillen schalt sie sich selbst für ihre Unüberlegtheit.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie, weil sie sich einfach nicht vorstellen mochte, was weiter passieren würde.
Der Mann namens Toshinaka beobachtete ihr Mienenspiel sehr aufmerksam. „Haben Sie eine Ahnung, weswegen Sie hier sind?“
„Shin“, sagte Isabelle und runzelte die Stirn.
„Sie suchen nach Ihrem Bruder, Lérand-san“, bestätigte der Yakuza. „Ihre Fragen haben die Leute im Kabukichō aufgeschreckt. Ich muss zugeben, dass ich so etwas nicht gutheißen kann.“
Er stand auf und ging durch den Raum, der mit Tatami-Matten ausgelegt war. Seine nackten Füße waren auf den Reisstrohmatten nicht zu hören, und Isabelle hatte sich nicht geirrt, was seine Körperspannung betraf – sein Gang war geschmeidig und federnd. Er musste Kampfsport oder etwas in der Art betreiben.
An der Schiebetür aus Papier blieb er stehen und schob sie in einer kompliziert anmutenden Folge von Handbewegungen auf. Kühle Luft drang durch den Spalt und Isabelle sah auf ein atemberaubendes Bergpanorama über einem Garten. Die Sonne ging gerade hinter einem der mit Wald bedeckten Gebirgsgipfel unter, und das rote Licht traf auf einen Teich, der direkt vor der Schiebetür lag, und färbte ihn blutrot.
Isabelle schob die Seidendecke zur Seite, blieb aber sitzen. „Und was haben Sie jetzt mit mir vor?“, fragte sie. „Wenn Sie mich verschwinden lassen wollen, brauchen Sie sich diese Mühe hier nicht zu machen.“ Das klang bitter, aber Isabelle hatte oft schon früher so reagiert, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte – sie wurde bissig.
Er drehte sich wieder zu ihr um. Diesmal lag tatsächlich der Anflug eines freudlosen Lächelns auf seinem schönen Gesicht. „Sie haben sich anscheinend über die gängigen Geschichten erkundigt“, spottete er.
Isabelle runzelte die Stirn. „Sie haben mich entführt und halten mich hier fest. Was soll ich sonst denken?“
Sie war
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