Seidentanz
hob sich, die Gebäude stürzten ein.
Die Druckwelle schleuderte mich zu Boden; ich stieß mit dem Kopf an den Straßenrand; alles wurde still und schwarz. Ich lag bewußtlos, vermutlich nicht lange. Das völlige Dunkel wurde heller, begann zu schimmern. Nach Atem ringend, kam ich wieder zu mir, blickte zum Baum hinauf. Das Licht fiel schräg durch die zitternden Zweige und sah aus, als ob es durch den dünnen Schleier zwischen den Dimensionen sickerte. Ich hatte das Gefühl, mein Gehör sei mit Watte verstopft. Bitterer, ekli-ger Staub, der nach Heizkessel schmeckte, drang mir in Mund und Nase. Ein Hustenanfall zerriß mir fast die Brust. Blut floß aus meinen Ohren. Als ich mich aufrichtete, sah ich Menschen unbekleidet am Boden kriechen. Ich merkte nicht sofort, daß die Haut wie abgeschält an ihren Körpern hing. Ich selbst war an Armen und Schenkeln verbrannt, aber die Baumkrone hatte die tödlichen Strahlen gemildert. Im Fallen hatte ich die rechte Hand ausgestreckt; sie war ungeschützt geblieben. Jetzt besah ich diese Hand mit großer Verwunderung. Die Hand blutete kaum, aber die Haut löste sich ab. An den Sehnen und dem eingeschrumpften Fleisch klebte Staub. Im Schockzustand sendet das Gehirn Endomorphine aus, ein natürliches Betäu-bungsmittel. Der Schmerz war nicht groß; es war eher eine Art Jucken. Die richtigen Schmerzen setzten erst allmählich ein…
«
Hanako starrte vor sich hin, mit leeren Augen. Sie schien plötzlich klein, weißhaarig, zusammengesunken.
»In den ersten Sekunden kamen zwanzigtausend Menschen ums Leben. Darunter auch meine Mutter. Das Gebäude der Gesundheitsbehörde war in Flammen aufgegangen. Die Zahl der Opfer – in den Stunden und Tagen danach – betrug hundertfünfzigtausend. Aber das erfuhren wir erst später…«
Lastendes Schweigen. Hanako holte tief Atem. Wenn sie nicht redet, wirkt sie todmüde, dachte ich. Ihre Lippen waren grau, sie hielt die Augen geschlossen. Das Ganze mußte ein Schock für sie gewesen sein. Für mich war es jedenfalls einer.
Wortlos faßte ich nach ihrer verstümmelten Hand, legte sie an meine Wange; ihre Hand war kalt, vermutlich schlecht durch-blutet. Ihr Schmerz hüllte mich ein, trug mich zu ihr; ich wußte nicht, ob nur der alte Schmerz wiederkam oder ob sie jetzt einen neuen erlebte, durch mich. Fragen konnte ich nicht mehr, Kunio auch nicht, wir sehnten uns nach einem schnellen Ende des Gesprächs. »Kanntest du diese Geschichte?« fragte ich Kunio mit den Augen. Er schüttelte stumm den Kopf. Wir seufzten beide. Da öffnete sie die Augen.
»Ich habe über diese Dinge nie gesprochen.«
Kunio sagte mit ruhiger Stimme:
»Manchmal ist es gut, mit jemandem zu reden.«
Sie blinzelte überrascht.
»Das ist wahr«, erwiderte sie, mit kindlichem Blick.
Ich war sehr besorgt und voller Liebe zu ihr. Ich sagte:
»Sie sollten sich etwas hinlegen.«
Sie drückte leicht meine Hand.
»Warte bitte einen Augenblick, ich muß dir etwas geben.«
Sie stützte sich auf den Händen ab. Kunio half ihr, sich aufzurichten; sie verließ mit unsicheren Schritten den Raum. Wir sahen uns an, im flackernden Lampenlicht. Kunio sagte:
»Es war hart für sie.«
Ich biß mir auf die Lippen.
»Hätte ich das gewußt…«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Mir scheint, daß sie sich jetzt wohler fühlt. Sie schleppte das ganze Zeug mit sich herum, schon jahrelang.«
Ich erzählte, daß Lea kaum anders war.
»Sie redet fast nie von den Kriegsjahren. Solche Erinnerungen erschüttern. Lea will nicht erschüttert werden. Nur der Name von Hanako war mir vertraut. Von den Judenverfolgun-gen reden andere. Sie nicht.«
Er legte seine Hand auf die meine.
»Es ist seltsam, wie solche Dinge entstehen.«
Ich preßte seine Finger.
»Ich habe keine Erklärung, Kunio. Etwas ist eingetroffen, was logisch nicht denkbar war. Ich habe mich oft gefragt, wer diese Hanako eigentlich war, die so viel Anteilnahme und Begeisterung erweckte. Eine Zeitlang dachte ich sogar…«
Ich stockte. Er fragte:
»Was denn?«
»Daß Lea sie erfunden hatte. Bei ihr ist vieles unecht, eine Pose. Sie kultiviert diese Eigenschaft; sie mag es, wenn man sie interessant findet. Und jetzt habe ich Hanako gefunden! Sie ist deine Großmutter, du bist ein Teil von ihr. Wie soll ich das benennen? Zufall? Schicksal?«
Er lächelte.
»Es hat wohl etwas mit uns zu tun.«
»Wir sind miteinander verstrickt, so kommt es mir vor. Gefangene in einem Netz. «
Schritte schlurften über die Matte.
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