Seidentanz
irgendein Beruhigungsmittel.
Jetzt schlief sie tief.
Heute morgen habe ich begonnen, über uns zu schreiben. In Polen hatte ich es nicht gewagt. »Schreibe nichts auf! Man weiß nie, wer das lesen wird«, hatte mich Iris gewarnt. Hier fühle ich mich sicher. Sobald es Iris wieder gutgeht, reisen wir weiter, nach Amerika. Inzwischen schreibe ich, für mich selbst, ohne Richtlinie oder Mittelpunkt. Ich schreibe über Dinge, die schmerzen, bevor die Wunden heilen und die Erinnerungen verblassen. Ich muß es jetzt tun; ich komme nicht zur Ruhe, es verlangt mich danach. Später werde ich nicht mehr daran denken wollen; es soll vergessen werden, nie gewesen sein. Nur ein Name wird bleiben, in einem Bereich, tief in mir, für andere unzugänglich. Keiner wird wissen, was dieser Name für mich ist – bleiben wird –, der Name eines Menschen, von dem ich nur ahnen konnte, wer er in Wirklichkeit war. All diese Dinge muß ich packen, pressen, in Worte verwandeln. Worte, die meine Existenz auf der anderen Seite des Lebens verkörpern.
So knie ich jetzt auf dem Strohkissen vor Hanakos Schreibtisch, obwohl mir das Stillsitzen schwerfällt und mein linkes Knie schmerzt. Ich schreibe und schreibe und kann nicht mehr aufhören. Ich werde wohl Tage und Nächte damit zubringen.
Ich werde mich in alte Vorstellungen vertiefen, in Alpträumen wühlen und manchmal sogar schreien. Hanako sieht mich an.
Ihr Gesicht ist traurig. Aber sie weint nicht: sie lächelt mir zu.
Das gibt mir Mut. Die Angst, die ich früher kannte, ist vorbei.
In dieser Angst will ich nie mehr leben.
Irgendwie begann alles, als sie meinen Vater verhafteten. Die Nazis waren schon fünf Jahre an der Macht, aber man hatte ihn in Ruhe gelassen. Er war Offizier, aus angesehener Familie: Sein Vater, Franz von Steinhof, war in Münster Oberster Richter. Meine Eltern hatten sich 1928 kennengelernt. Iris Linder kam aus Polen, aus Danzig. Sie war zu Besuch bei einer Tante, die einen Deutschen geheiratet hatte und goldene Hochzeit feierte. Thomas – mein Vater – war ein Neffe dieses Deutschen. Für ihn und Iris war es Liebe auf den ersten Blick. Daß Iris Jüdin war, erfuhr Thomas erst nachträglich. Ihr Vater war Inhaber einer Buchhandlung; eine kleine Druckerei und ein Buchbinderei gehörten dazu. Vierzig Angestellte. Das Unternehmen war im Besitz der Familie seit drei Generationen. Die Linders waren aufgeklärt, intellektuell. Iris hatte einen Bruder, Amos, der vier Jahre jünger war. Amos, sagte man, war das schwarze Schaf der Familie. Als man ihm an der Bar Mizwa die traditionellen Gebetsriemen um die Stirn und den linken Arm binden wollte, hatte er sich gesträubt und einen Skandal verursacht. Seitdem hatte er nie mehr einen Fuß in die Synago-ge gesetzt. Einmal, als wir bei den Großeltern zu Besuch waren, sagte er: »Im Grunde ist Gott die schlaueste Erfindung der Menschheit. Da niemand beweisen kann, daß es ihn nicht gibt, müssen alle so tun, als ob er existieren würde.« Er lachte dabei schallend. Es war ausgerechnet am Sederabend, als wir Gäste hatten. Die Kerzenleuchter brannten, man hatte das silberne Service aus der Vitrine geholt, die Tischdecke war aus Damast.
Großvater hatte die Haggada vorgelesen. Jetzt saß die Tisch-runde wie versteinert. Ich bekam einen Lachkrampf, weil alle so entsetzte Gesichter machten. Mein Löffel fiel in die Hühner-bouillon, Tropfen spritzten auf die Decke und auf mein Spit-zenkleid. Die Oma schüttelte tadelnd den Kopf. »Aber Lea! So benimmt sich kein gut erzogenes Mädchen.« Amos zwinkerte:
»Lea und ich sind immer gleicher Meinung.« Das rief noch mehr Mißbilligung hervor. Meine freudige Zustimmung »Aber ganz bestimmt! « wurde meiner kindlichen Unwissenheit zuge-schrieben und gnädig überhört.
Amos war ein Provokateur, das mochte ich so an ihm. Ich fühlte, daß wir von der gleichen Art waren; aus verschiedenen Gründen traute ich mich noch nicht, meinem Wesen freien Lauf zu lassen. Alles war bei mir in der Schwebe, aber es war bloß eine Frage der Zeit.
Aus dem Verzeichnis der Universität ging hervor, daß Amos unter den Absolventen einer der Besten war. Seine Mutter war stolz auf ihn, der Vater sagte nichts; er wollte seine Autorität wahren. Zeigte er Anerkennung, fiel ihm ein Zacken aus der Krone. Amos selbst stellte das Ganze als amüsanten Spaß hin.
Er hatte zwei dünne, weiße Narben auf der rechten Wange. Iris erzählte mir, daß er in einer »schlagenden Verbindung« war.
Ich fand es
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