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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Hanako bewegte ihre Fü-
    ße sehr vorsichtig, als ob sie ihre Kräfte schonte. Sie war ziemlich lange weggeblieben. Sie hielt ein Schulheft in der Hand, ziemlich umfangreich, mit verblichenem lila Papier eingebun-den. Unbeholfen sank sie auf die Fersen, übergab mir das Heft mit beiden Händen. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu; sie jedoch blieb stumm. Ich schlug das Heft auf. Jede Seite war mit einer engen, gut leserlichen Schrift bedeckt. Mir stockte der Atem: Es war Leas Schrift, kindlicher, akkurater, aber kaum anders als heute.
    Ein dünner Umschlag fiel aus dem Heft; Hanako nahm ihn und legte ihn auf die Seite. Ein kleines Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.
    »Damals in Kobe schrieb Lea ihre Erinnerungen auf.
    Schreibwaren waren knapp, aber ich gab ihr ein Schulheft. Der Füllhalter stammte von meinem Vater. Lea sagte, sie habe so viel erlebt, so viel Schreckliches, aber auch so viel Gutes, daß sie es aufschreiben wollte, bevor sie es vergaß. Sie schrieb täglich, während ich in der Schule war oder meiner Mutter in der Praxis half. Nachdem Iris gestorben war und Lea mit dem Schiff nach Amerika fuhr, gab sie mir das Heft. Sie hatte Angst, es auf der Reise zu verlieren. Ich sollte es für sie aufbe-wahren, bis der Krieg vorbei war… «
    Hanako holte Atem und fuhr fort:
    »Ich habe Leas Tagebuch nie gelesen, Ruth. Nicht nur, weil ich das bißchen Deutsch, das ich konnte, im Laufe der Jahre vergessen habe, sondern weil diese Dinge nicht für mich bestimmt waren. Ich hatte kein Recht, einen unerlaubten Blick in das Herz einer Freundin zu werfen. Aber das Heft war immer da und wartete auf sie.«
    In mir war ein seltsames Gefühl, wie Fieber. Ich blätterte mit zitternden Fingern die Seiten um. Rauh stieß ich hervor:
    »Sie hat immer noch die gleiche Schrift…«
    Hanakos Hände tasteten nach dem Umschlag. Er war nicht zugeklebt. Einige alte Schwarzweiß-Fotografien, sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt, kamen zum Vorschein.
    »Meine Mutter hat sie aufgenommen«, sagte Hanako.
    Sie faltete behutsam das Seidenpapier auseinander, reichte mir drei Fotos. Zwei Bilder zeigten Lea. Sie saß auf der Außentreppe eines Holzhauses – offenbar in Japan. Meine Kehle wurde eng. Ich war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Damals, als sie vierzehn Jahre alt war, sah man es: die gleiche Gesichtsform, das lockige Haar; sie war feingliedrig wie ich, mit dem Unterschied, daß ihre Zartheit aus Entbehrung kam.
    Ihr Körper war eckig, abgemagert, ihre Waden waren zu dünn, ihre Knie spitz. Auch die Proportionen stimmten nicht mehr: Die Menschen ihrer Zeit waren anders gebaut, die Beine waren kürzer, die Becken breiter. Auf dem zweiten Bild sah man sie mit einer jungen Japanerin, Hanako. Beide Mädchen saßen dicht nebeneinander auf der Treppe. Hanako trug eine weiße Bluse, dazu eine Art Pluderhose, dunkel und weiß gemustert.
    Ihr Haar war gescheitelt, mit einer Spange seitwärts gehalten.
    Ihre Stirn war breit und glatt, die Nase gerade, die Lippen weich und schön geschwungen. Die tiefschwarzen Brauen liefen in Spitzen aus. Ein Mädchengesicht von damals, lieblich, zutraulich, arglos. Mir blieb noch ein letztes Foto anzusehen; dieses war vergilbt und zerknittert. Das Foto war nicht in Japan aufgenommen worden, sondern in einem deutschen Fotostudio.
    Der Name stand auf der Rückseite des Bildes, mit einem Da-tum: Münster, Juli 1932. Es zeigte eine junge Frau in einem Lehnstuhl. Ihr Kleid war weiß, schlicht, mit einem viereckigen Ausschnitt. Als Schmuck trug sie nur den Ehering und eine dünne Kette mit einem ovalen Medaillon, beides auf dem Bild kaum sichtbar. Es war damals üblich, daß die Porträts retu-schiert wurden, auch dieses. Dadurch wurde die Besonderheit der Gesichter nicht zurückgenommen, sondern trat deutlich hervor. Das Antlitz dieser Frau war außergewöhnlich klar; eine vollkommene klassische Schönheit. Das Bemerkenswerteste an ihr war das Haar, eine geschmeidige, hellblonde Fülle, geflochten und zu einer Zopfkrone aufgesteckt. Sie hielt den Rücken sehr gerade, die Hände locker auf den Knien gefaltet.
    Ein Mann in deutscher Offiziersuniform, stehend, hatte die Hand auf die Lehne des Stuhls gelegt. Er hatte ein ernstes Gesicht, mit hohlen Wangen, einer schmalen Nase. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt, seine Augen hell unter buschigen Brauen. Iris und Thomas von Steinhof: meine Großeltern. Es war das erste Bild, das ich von ihnen sah.
    Daß ich weinte, merkte ich erst, als ich einen

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