Seidentanz
Tropfen auf dem alten Bild sah. Ich wischte ihn behutsam weg. Die Zeit machte einen Bogen; ich kehrte zu den Anfängen zurück. Zu der Kindheit und weit darüber hinaus, zu den Vorfahren. Verwirrt sah ich, wie Hanako ein Schmucktäschchen aus blauem Seidencrepe öffnete. Klein war es, alt und verschlissen. Hanako nestelte behutsam die winzige Kordel auf, nahm etwas heraus, legte es stumm in meine klebrige Handfläche. Ich erblickte eine Kette mit einem Anhänger, oval, nicht viel größer als ein Dau-mennagel, doch aus schwerem, wertvollem Gold. Ich blinzelte; mein Herz klopfte stürmisch. Das Schmuckstück trug eine Gravur, wie es zu Anfang dieses Jahrhunderts Mode gewesen war. Jugendstil nannte man diese Ausführung. Sie zeigte ein Blumenmuster: eine Schwertlilie. Ich drehte den Anhänger um.
Auf der Rückseite war in verschnörkelter Schrift ein Name eingraviert: Iris.
23. Kapitel
Kobe, September 1941
I ch schlafe gut in Kobe, obwohl ich auf dem Boden, auf einer Art Matratze, liege. Das Kopfkissen ist steinhart, inzwischen bin ich daran gewöhnt. Das Haus hat vier kleine Räume; der größte Raum ist das Badezimmer, weißgekachelt, mit einem Bassin in der Ecke, das mindestens vier Badenden Platz bietet. Seltsam. Es ist fast stets mit beinahe kochendem Wasser gefüllt; bevor man hineinsteigt, wäscht man sich in einem Bek-ken. Ich gieße drei Eimer kaltes Wasser und einen Eimer aus dem Bassin hinein, sonst werde ich krebsrot und schlapp wie ein Waschlappen. Gleich neben dem Badezimmer liegt die Toilette; es gibt weder eine Sitzmöglichkeit noch eine Wasserspülung, bloß ein Loch im Boden. Es stinkt, aber alles ist peinlich sauber, und neben dem Loch steht eine Vase mit Blumen.
Der Nachtmann kommt einmal wöchentlich und leert den Kü-
bel. Alle Zimmer sind mit Binsenmatten ausgelegt. Möbel gibt es kaum: Im Wohnzimmer gibt es nur eine kleine Bücherwand, Sitzkissen und ein paar Eßtischchen, die man hinstellt, wo man will. Hanako und ihre Mutter – sie heißt Fumi – haben einen Schreibtisch; niedrige weiße Tische, mit Büchern und Feder-schalen darauf. Keine Stühle; beide knien auf Kissen aus geflochtenem Stroh. Sie besitzen auch ein Grammophon, mit Platten. Aber Musik dürfen wir nur ganz leise hören, es ist Krieg. In einem Alkoven befinden sich ein Rollbild und eine Blumenvase. Das Bild zeigt – wie lustig – einen nassen Frosch auf einem Blatt.
Ich sehe jedesmal zu, wenn Hanako die Blumen auswechselt.
Sie verteilt die Blumen in einer Weise, daß sie einander ergänzen und eine Art Gemälde bilden. Die Betten werden jeden Morgen auf dem kleinen Balkon ausgelüftet; abends duften sie angenehm frisch. Betritt man ein japanisches Haus, zieht man zuerst die Schuhe aus, das erleichtert das Saubermachen sehr.
Das Haus ist alt, sagt Hanako. Wir legen uns auf den Fußboden und starren an die Decke. Die Bretter sind aus ausgesuchtem Holz, in das die Jahreszeiten phantastische Muster zeichneten.
Auch für die Wandbekleidung wurden schöne, matte Hölzer gewählt, manche sogar noch mit Baumrinde. Hanako verfolgt mit der Hand die Maserung und sagt: »Wolken.« Ich sage:
»Wellen!« Hanako sagt: »Ein alter Mann!« Ich sage: »Eine alte Frau! «Wir lachen; ich lerne dabei neue Wörter. Heute morgen, bei Tagesanbruch, wurde ich plötzlich wach: Der Boden schaukelte; mir schien, daß jemand an der Matratze zog. Ich hörte ein leichtes Rumpeln, ein Klirren. Als ich mich aufrichtete, sah ich, daß Hanako die Augen offen hatte. Ganz ruhig lag sie da und horchte. Ich blickte sie verstört an. Wir hatten unsere eigene Sprache entwickelt: ein oder zwei Wörter, ein halber Satz, den wir durch Mimik und Gebärdenspiele ergänzten. Wir waren bald sehr geschickt in dieser Sache.
»Jishin!« sagte Hanako.
Ein neues Wort. Ich wiederholte es fragend. Sie zeigte auf den Fußboden, bewegte die Hand hin und her. Ich verstand: ein Erdbeben.
»Oft?«
»Manchmal!«
»Gefährlich?«
Ihr Mienenspiel zeigte es: Doch, es konnte gefährlich werden.
Sie zog die Stirn kraus, lauschte. Nach einer Weile glättete sich ihr Gesicht. Sie lächelte mir beruhigend zu.
»Vorbei.«
Ich legte mich auf die flache Matratze zurück.
»Ich habe keine Angst. Krieg ist schlimmer.«
Sie verstand das Wesentliche. Sie nickte.
»Shigata nai«, seufzte sie, »da ist nichts zu machen.«
Ich drehte mich auf die andere Seite. Im Nebenzimmer war alles ruhig. In der Nacht hatte Iris vor Schmerzen laut gestöhnt.
Fumi hatte ihr Tropfen gegeben,
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