Seidentanz
eigentümlich… wie soll ich sagen… vielleicht unverfroren. Mir gefiel das. Auch wenn ihn jetzt andere Dinge zu beschäftigen schienen; er scherzte mit mir, aber nicht mehr so wie früher; er blieb immer etwas fern von mir. Oder bildete ich mir das nur ein?
Manchmal glaubte ich, daß er mich nicht mehr mochte. Das verletzte mich auf eine stumme, heftige Art. So begann die Zeit der Entfremdung.
Amos war mager geworden und rauchte jetzt kräftig, sehr starke Zigaretten. Rauchen war in der Familie verpönt. Politik ebenso. Über Politik sprach nur Amos – wenn man ihn reden ließ. Meistens schnitt ihm Opa das Wort ab. »Nicht bei Tisch, Amos, wir essen!« Oma seufzte vorwurfsvoll: »Nicht vor Iris, sie hat schon genug mitgemacht!« Amos zuckte die Achseln, rauchte herausfordernd eine Zigarette nach der anderen, und alle machten finstere Gesichter. Es hieß, er sollte bald die Buchhandlung übernehmen. Inzwischen durchlief er die verschiedenen Abteilungen, bis er »das Geschäft im Griff hatte«.
Mit anderen Worten: bis sein Vater – längst über siebzig –
geruhte, das Ruder aus der Hand zu geben.
Ich ging wieder zur Schule. Mein Polnisch »ließ zu wünschen übrig«, wie Oma sich ausdrückte, aber ich lernte schnell.
Ich hatte auch Ballettstunden, bei einer guten Lehrerin. Sie achtete darauf, daß beide Beine gleichmäßig trainiert wurden, daß ich meine Rückenmuskulatur stärkte. »Sonst bekommst du ein Hohlkreuz, Lea!«
Amos wohnte in einer Junggesellenbude, in einem alten Haus beim Rathausturm. Ich fragte Tante Hannah, warum er nicht mehr bei den Eltern wohnte, das Haus war doch groß genug.
Sie machte ein Gesicht, als ob sie an einer Zitrone lutschte. »Er hat oft Damenbesuch.«
Ich war nicht unwissend. Ihre Bemerkung übte keine ab-schreckende Wirkung auf mich aus. Im Gegenteil. Ich weiß noch, daß es an einem Sommerabend war; alle saßen auf der Veranda, tranken Tee, aßen Kirschkuchen. Der Himmel glühte, Möwenschwärme kreisten über dem Garten. Keiner merkte, wie ich das Haus verließ. Die Altstadt lag ganz nahe; die warme Meeresluft war voller Stimmengemurmel, Küchendünste und Bratenduft. Springbrunnen plätscherten, Tauben gurrten, ein Grammophon spielte Tangomusik. Ein letzter Sonnenstrahl vergoldete den Glockenturm des Rathauses. Ich ging über den Platz, an den hohen Häusern mit Baikonen und prächtigen alten Eingängen vorbei. Niemand sah mich, als ich in eine dieser Haustüren trat. Ich fühlte mich ganz ruhig. Und gleichzeitig von einem merkwürdigen, fieberartigen Rausch gepackt. Niemand war im Treppenhaus, niemand sah mich, wie ich die Stufen hinaufging. Bis ganz hinauf, natürlich. Amos’ Name stand auf einem Messingschild. Ich hob die Hand, wollte klingeln. Und erstarrte. Aus dem Zimmer drang ein Seufzen, der regelmäßige Rhythmus eines knarrenden Bettes. Ich preßte ein Ohr gegen das Holz. Mein Herz schlug in meiner Brust; ich war gebannt von diesem Rhythmus, ich war verdammt, ihm zu folgen, ihn herbeizuwünschen, ihn zu fürchten. Plötzlich stieg ein dünner Schrei empor, weich und locker wie zerrissene Seide. Dann Stille. Und dann Amos’ Stimme, anders als sonst, verhalten und etwas heiser. Das Lachen, das ihm antwortete, war weich und entspannt; ein sehr persönliches Lachen, greifbar nahe, vertraulich und unbekannt: ein Lachen ohne Gesicht.
Zuerst ging ich nur langsam von der Tür weg; als sei ich gezwungen, mich rühren zu müssen, die Füße vor mich zu stellen, mich fortzubewegen. Dann machte ich kehrt und lief; die Treppe hinunter, mit fliegendem Atem, kichernd. Ich hielt die Hand vor den Mund, das blödsinnige Gekicher ließ sich einfach nicht ersticken. Keuchend setzte ich mich auf die unterste Treppenstufe; ich krümmte mich vor Lachen, bis mir die Tränen kamen und ich mir mit dem Ärmel das nasse Gesicht trocknete. Dann saß ich eine Weile ganz still, den Kopf an die kalte Steinwand gelehnt. Und dann stand ich auf, trat nach draußen. Ich wollte jetzt nach Hause gehen. Allein sein. Ein Buch lesen. Essen.
Schlafen. Täglich zur Schule gehen, dreimal in der Woche an der Stange üben. Battements. Attitude, Arabesque, und eins und zwei! Was hast du eigentlich im Kopf, Lea?
Wann war das? Meine Erinnerungen sind verschwommen.
Doch, es muß in der Zeit gewesen sein, als Amos uns auf Reisen schicken wollte. Noch vor Beginn der Saison. Vorzugswei-se in den Süden. Die Art, wie er sprach, klang sehr merkwürdig. Über gewisse Dinge schien er nicht reden zu
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