Seidentanz
Tänzerin werden.«
Ich riß den Kopf hoch, trank seinen Atem. Seine Augen hatten einen unbekannten, starren Glanz. Ich zögerte nur einen Herzschlag lang; dann flogen meine Arme um seine Schultern, schlangen sich um seinen Hals. Seine Wärme drang durch meine Kleider, das Innere meines Körpers wurde so heiß wie mein Gesicht. Ich schluchzte:
»Ich will bei dir sein!«
Er sah mich an, als erwachte er aus einem Traum, als sähe er mich zum ersten Mal. Seine Lippen berührten meinen Mund.
»Jetzt nicht, Lea. Ich habe noch zu tun. Und wenn ich mich gehenlasse, führe ich mich auf wie ein Esel.«
Er küßte mich sanft. Ich wußte nicht, daß man die Lippen dabei zu öffnen hatte. Er brachte es mir bei, mit leichtem Druck. Dann umfaßte er mit beiden Händen meine Handgelen-ke, schob behutsam meine Arme von seinem Hals. Unerbittlich und voller Zärtlichkeit löste er sich von mir.
»Später, vielleicht«, sagte er leise.
Er warf seine Jacke über die Schulter, richtete sich auf und ging. Die Tür schlug hinter ihm zu.
24. Kapitel
Kobe, Oktober 1941
V ier Tage lang habe ich nicht ein Wort geschrieben. Soll ich wieder anfangen? Iris geht es schlecht, ich kam nicht zum Denken. Sie kämpft mit dem Schmerz, bis das Morphium sie davon befreit, sie dafür aber müde und wirr macht. Der Funke, das Strahlende, das sie einst belebte, ist von ihr gewichen. Ihre Lippen sind gekräuselt wie dünnes Seidenpapier, ihr Puls schlägt kaum hörbar und viel zu rasch. Sie phantasiert, sie sieht sich wieder als Kind bei ihren Eltern, als Jungverheiratete in Münster. Sie hat das Augenlicht fast ganz verloren, die linke Seite ihres Körpers gehorcht ihr nicht mehr, sie kann kaum noch Finger und Gelenke bewegen. Mehr und mehr schläfert das Morphium sie ein. Halb bewußtlos streckt sie die Hand aus, klammert sich an meine Hand, als ob ich die Mutter wäre und sie das Kind. Immer öfter denke ich, daß sie einem Ende entge-gengeht, das nahe und unvermeidlich scheint. Ich warte auf dein Ende, Iris. Du und ich, wir werden nie zusammen nach Amerika reisen. Ich widersetze mich diesem Gedanken, aber er drängt sich auf, ich werde ihn nicht los. Tagsüber bin ich mir selbst überlassen; im Haus ist nur Sada, das Dienstmädchen.
Dr. Ota empfängt ihre Patienten und macht Krankenbesuche, Hanako geht zur Schule und hilft dann ihrer Mutter in der Praxis. Iris’ zauberhaftes Lächeln, ihr sonniges Wesen, haben Sadas Herz gewonnen. Sie wäscht und bessert ihre Kleider aus, mit feinen, feenhaften Stichen, ihre Geschicklichkeit grenzt nahezu ans Wunderbare. Sie kocht für Iris eine kräftigende Suppe, Miso genannt, die ich ihr behutsam einflöße. Sie hält ihr Krankenlager sauber, stützt sie, wenn ich sie wasche oder kämme. Sada ist nicht mehr jung; sie ist Witwe, sagte mir Hanako, hat eine Tochter, die auf dem Land verheiratet ist. Sie ist kleingewachsen, plump, mit häßlichen Zähnen, aber ihr Lä-
cheln ist verschmitzt und voller Güte, unwiderstehlich. Sie arbeitet völlig selbständig, wie ich es in Europa bei Dienstboten nie erlebt habe. Sie kann sogar lesen und schreiben und rechnet scharf. Und obwohl sie die Dame des Hauses mit »Oku Sama«
– Ehrenwerte Herrin – anredet und viel Zeit mit Verbeugungen verschwendet, setzt sie stets ihren eigenen Willen durch.
Iris schläft. Ich bin allein, um mich in Ruhe zu sammeln.
Das, was ich jetzt schreiben muß, ist sehr schwierig. Manche Worte ändern ihren Sinn, verweisen auf andere Worte, die man nicht preisgeben will. Sie zeigen sich überdeutlich, man wird davon geblendet. Viele Ereignisse sehe ich beinahe gleichzeitig, aber sie überlagern sich nicht, behalten ihre Grenzen: Vergangenheit, Gegenwart, Menschen, Dinge – alles ist durchsichtig und endgültig. Mein Gedächtnis beginnt zu arbeiten, aber ich habe Angst vor dem Schmerz in meinem linken Knie; ich weiß, daß er kommen wird. Ich kann diesen Schmerz nur im Stehen ertragen.
Wie war es damals, in Danzig? Das muß ich jetzt genau überdenken. Soweit ich mich entsinne, ging das Leben weiter.
Aber die Familie entzweite sich plötzlich: auf der einen Seite die Großeltern und Tante Hannah, gereizt, unnachgiebig. Auf der anderen Seite Iris, ratlos und verzweifelt. Und Amos, der –
wie Opa sich erbost äußerte – »in Spelunken verkehrt und sich mit Frauenzimmern herumtreibt«. Und wenn er nicht aufhörte, mit seiner »littérature engagée« der Zensur zu trotzen, wäre er es, Taddeuz Linder, dem es an den Kragen ging,
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