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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Antipathien, unentwirrbar mit politischen Zielen vermischt, erzeugten Feindschaft und Haß. Ein falscher Satz, mit leicht erhobener Stimme gesprochen, konnte eine Familie ins Unglück stürzen. Die Braunhem-den hatten ihre Augen und Ohren überall: Durchsuchungen, Enteignungen und Festnahmen waren an der Tagesordnung.
    1935 wurde den Juden die Staatsbürgerschaft genommen.
    Schlägertrupps marschierten durch die Straßen; jüdische Geschäfte wurden geplündert, Häuser in Brand gesteckt.
    Iris war sehr ruhig – wohl hauptsächlich wegen ihres starken Vertrauens in ihren Mann. Thomas hatte ihr genaue Anweisungen gegeben, Geld für sie auf ein besonderes Konto gelegt. Sie sollte, wenn ihm etwas passierte, unverzüglich Deutschland verlassen. Eine Kusine von ihm lebte seit dreißig Jahren in Paris. Wir kannten sie durch Briefe und Fotos. »Ihr könnt bei Anna wohnen, bis sich die Dinge zum Besseren wenden.«
    Zum Besseren? Ich weiß nicht, ob er selbst irgendwelche Hoffnung hegte. Er nahm sich die Freiheit, nicht mitzumachen, zog sich zurück, wurde immer stiller. Ich ging zur Schule. Das, was ich dort lernte, gefiel mir nicht. Amos’ Geschichten waren interessanter. Ich empfand Langeweile, Gleichgültigkeit. Da wir katholisch waren und jeden Sonntag in die Kirche gingen, kam ich nicht auf die Judenbank, wie zwei andere Mädchen.
    Daß ich Tänzerin werden wollte, wußte ich schon als Kind.
    Als ich fünf war, ging ich mit meiner Mutter ins Theater.
    »Ein Wintermärchen« hieß das Stück. Da traten Mädchen als Schneeflocken auf. Ich war fasziniert. Iris hatte danach immer wieder beobachtet, wie ich auf Zehenspitzen vor dem Spiegel herumtrippelte. Als Kind hatte sie selbst Ballettstunden gehabt, und so schickte sie mich zu Dore Stein in den Unterricht. Dore Stein war Primaballerina beim Ungarischen Staatstheater gewesen. Ihre Ballettschule war in Fachkreisen bekannt. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde Dore Stein ersucht, ihren Schülern das »biologische Tanzdenken« beizubringen, sie nach der »Erb- und Rassenlehre« zu unterweisen. Dore Stein weigerte sich. Die Schule wurde geschlossen. Es hieß, Dore Stein sei ins Ausland gegangen. Fortan übte ich zu Hause; meiner Mutter war das lieber. Ich tanzte zu den Klängen von Bêla Bartok, Anton von Webern und Maurice Ravel. Mein Lieblingsstück war Schuberts »Der Tod und das Mädchen«. Ich hörte diese Platte immer wieder. Ich war von ihr besessen. Viele Dinge gingen mir dabei durch den Kopf. Eines Tages war die Platte nicht mehr da. »Ich konnte sie nicht mehr hören«, sagte Iris.
    Statt dessen kaufte sie mir »Ein Walzertraum«.
    Zeitweise bohrte sich ein entsetzlicher Lärm in den Himmel, eine Stimme dröhnte, die Scheiben klirrten. Ich sah nur einen Mund, der sich vervielfachte, sich über mich erhob und hän-genblieb, wie ein schwarzes Loch in der Luft. Wenn Hitler redete, schloß Iris sämtliche Fenster, stellte die Musik laut; ich rollte den Teppich zurück, schob alle vier Sessel auf die Seite und tanzte. Ich tanzte zu den Klängen des »Walzertraums«, bis die Lautsprecher schwiegen. Unvermittelt war die Stimme weg; eiskalte Ruhe kehrte ein. Die Straßen füllten sich mit Schritten, Haustüren fielen ins Schloß, Kinder spielten Ball, Straßenbahnen klingelten. Das Leben spulte sich ab wie ein hektisches Flimmern auf der Leinwand.
    Damals begann ich, von der Insel zu träumen; eine Insel im Meer, regenbogenfarbig, schwebend wie eine Qualle. Ich schwamm in höchster Angst. Die Wellen trugen mich; ich erreichte ein Ufer, wo Schwertlilien wuchsen. Die Knospen schimmerten lila und weiß. Ich konnte sehen, wie die Blüten hervorbrachen, zart wie Seide, sich kräuselten und entfalteten.
    Aus jeder Blume sprangen Lichter, nacheinander wie im Flug, schimmerten in funkelnden Kaskaden, so weit das Auge reichte.
    »Wie schön du träumen kannst«, sagte Iris.
    Der Traum kam oft wieder; er ist immer noch in meiner Erinnerung. Einmal begegnete mir Amos in den Wellen. Wir umarmten uns mit großer Innigkeit, in einem Universum von blauer Phosphoreszenz. Die Wasser waren warm, wir lösten uns ganz darin auf. »Ich kann nicht weiter, mein Knie schmerzt«, sagte er plötzlich. »Ich muß fort«, seufzte ich und schwamm allein auf die Insel zu, der Blumenpracht entgegen.
    Am nächsten Morgen, beim Frühstück, war ich nachdenklich.
    »War es kein schöner Traum?« fragte Iris.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß es nicht mehr.«
    Carl von Ossietzky galt als

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