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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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von dieser Stelle nicht erwartet. In Schußrichtung tat sich eine Gasse auf. Das war das Signal für die Kameraden. Sie setzten über die Brücke, zu zweit oder zu dritt. Immer wieder Sprung, Anlauf, Sprung. Das Täuschungsmanöver gelang fabelhaft.
    Alle entkamen. Amos lächelte – er lächelte tatsächlich, selbst in dieser Lage. Seine Zähne leuchteten schneeweiß.
    ›Alle bereit? Keine Rückendeckung, wir müssen das riskieren. Mal sehen, wie wir rennen können.‹
    ›Wieviel Zeit haben wir?‹ fragte einer.
    ›Dreißig Sekunden. Los!‹
    Wir rannten. Maschinengewehrgarben flackerten. Die Schüs-se krachten von allen Seiten. Ich sah Amos stolpern. In dem Augenblick, da er zu Boden ging, wußte ich, daß sie ihn getroffen hatten.«
    »Ich weiß«, sagte ich tonlos. »Am Knie.«
    Michaels Augen, glänzend wie Salz im Mondschein, zuckten zu mir hinüber. Er nickte, nicht eigentlich erstaunt, und sprach mit monotoner Stimme weiter.
    »Ja. Jeder konnte sehen, daß er keine Chance mehr hatte.
    Sein Knie war gespalten, wie mit einem Beil, der Knochen hing an einer Sehne. Wir wollten ihn tragen. Er stieß uns weg, forderte ein zweites Gewehr und Munition. Er wollte unseren Rückzug decken. Er ließ uns keine Wahl. Wir mußten gehorchen. Er war der Anführer, verstehen Sie?«
    Michaels Stimme brach. Wieder nickte ich stumm, die Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Amos war der Anführer, was denn sonst? Etwas anderes kam überhaupt nicht in Frage.
    Ich war die einzige, die sich rührte. Alle standen wie erstarrt.
    Tante Hannah schien in einen Zustand von leichter Hypnose versetzt. Großmutter preßte ihr Gesicht in beide Hände. Michael wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Ich sagte zu ihm: ›Denke daran, die letzte Kugel für dich!‹
    ›Richte den Eltern Grüße aus‹, knirschte Amos. ›Aus dem Jenseits!‹
    Wir umarmten uns. Ich sagte: ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹
    ›Ich werde da sein. Leb wohl!‹
    Und dann gab er uns Feuerschutz, machte den Nazis die Höl-le heiß, bis wir über die Brücke waren. Alle Kameraden, bis auf einen, dem sie das Schlüsselbein zerschmetterten, entkamen.
    Ein wahres Wunder. Aber Amos…«
    Er stockte abermals. Großmutter löste ihre Hände vom Gesicht. Ihre Stimme klang sanft und ruhig, so ruhig.
    »Sprich weiter, mein Sohn.«
    »Der letzte Schuß, wissen Sie? Er konnte ihn nicht mehr ab-feuern. Die Nazis nahmen ihn vorher gefangen, brachten ihn zu ihrem Hauptquartier. Woher ich das weiß? Auch wir haben Spione. Einer der unsrigen war dabei, als sie ihn folterten. Sie machten das sehr gewissenhaft. Es ging ihnen darum, Bescheid zu wissen. Wo wir zusammenkamen, wer die Anführer waren.
    Woher wir unsere Waffen bezogen. Bei ihm war es verlorene Zeit. Er hat geschwiegen, zwei Tage lang. Kein einziges Wort.
    Er hatte immer noch die Kraft dazu. In der dritten Nacht konnte unser Mann ihm das geben, was er brauchte.«
    Michaels Gesicht überzog sich mit Schmerz. Ein Schmerz, der ihn innerlich schüttelte. Er sagte, im Flüsterton:
    »Wir erkannten ihn nicht sofort, als wir ihn auf einem Stein-haufen fanden. Wir wuschen ihn, wickelten ihn in ein Leichen-hemd, legten ihn auf eine Bahre. In den frühen Morgenstunden übergaben wir ihn der Erde. Wir sprachen für ihn das ›Kad-disch‹. Die Kameraden hielten Wache.«
    Tiefes Schweigen. Nur Großmutter schluchzte, ganz leise.
    Und in diesem Schweigen wandte sich Michael mir zu.
    »Sie sind doch Lea nicht wahr? Amos hat noch etwas gesagt.
    Etwas für Sie, ganz persönlich.«
    Tränen schimmerten auf seinem Gesicht. Er suchte die Worte in seiner Erinnerung.
    »Er hat gesagt: ›Lea soll nicht traurig sein. Lea soll tanzen.
    Ich werde immer zusehen, wie sie tanzt. Dort, wo ich jetzt hingehe, habe ich nichts mehr zu tun.«‹
    Etwas Endgültiges hatte stattgefunden. Amos war nicht mehr; ich konnte nicht sagen, wie es zustande kam, aber von diesem Augenblick an wußte ich, daß er mir gehörte. Seine tote Hand und meine lebende Hand verschränkten sich so fest, wie ein Goldschmied einen Ring lötet. Jetzt brauchte ich nicht mehr hinter Türen zu lauschen. Er würde immer bei mir sein, in mir, wir würden uns nie verlassen.
    Die Schmerzen in meinem Knie kamen in Wellen; Schmerzen, die mich zusammenknicken, aufschreien liegen. Finsternis umhüllte mich; ich glitt dahin, wie gelähmt, mit geschlossenen Augen; ich hatte das Gefühl, in die Erde zu tauchen, noch tiefer zu sinken, in die Dunkelheit eines Grabes. Ich empfand keine Furcht, nur

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