Seidentanz
Einrichtungen sehr zweckdienlich gebaut. Und wenn sie etwas machen, dann machen sie es gründlich. Sie wollen uns ausrotten. Als Volk ausrotten. Das ist noch nie dagewesen, Herr Linder. Unsere Toten sind wirklich sehr zahlreich, wissen Sie. Man spricht von Millionen. Und das ist bloß der Anfang. Es wird weitergehen… «
Opas Augen blinzelten ins Leere. Er wackelte mit dem Kopf, murmelte vor sich hin. Hatte er Michaels Worte nicht gehört?
Oder verschloß er sein Gehirn, stellte sich taub, blieb bei seiner sturen Entschlossenheit, die Tatsachen nicht zur Kenntnis zu nehmen?
»Simon? Ja, ja, an den erinnere ich mich gut. Er sammelte bibliophile Ausgaben. Die französische Renaissance, Sie wissen schon. ›Le siècle des lumières.‹ Ich konnte ihm oft etwas Neues besorgen. Wir hatten unseren Stammtisch, bei Geborski.
Wir tranken Kaffee mit Schlagsahne. Oder Pflaumen-schnaps…« Ich hörte kaum noch zu. Gaskammern? Krematori-en? Hatte man sie wirklich zu diesem Zweck gebaut? Unvorstellbar. Ungeheuerlich! Lieber Gott, wo warst du, als sie diese Abscheulichkeit erfanden? Als sie das Material herbeischafften, die Anlagen bauten? Gäbe es den Gott der Heiligen Schriften, er hätte diesen Wahnsinn nicht zugelassen, die Verbrecher zu Staub zermahlen, mit dem Feuerschwert vernichtet. Aber ER
läßt ja alles – sogar das Furchtbarste – geschehen. Seitdem die Menschen auf Erden sind. Jetzt glaube ich auch, daß es IHN
nicht gibt, daß es IHN nie gegeben hat, daß sie IHN nur erfunden haben.
Aber vielleicht gibt es etwas anderes als das, was wir uns vorstellen. Du weißt jetzt Bescheid, Amos. Bitte! Sag mir, was es ist…
»Sehen Sie, Michael«, sagte Oma ruhig, »wir dachten, solche Dinge gibt es nicht. Nicht bei uns, nicht mitten in Europa…«
Und, kaum hörbar: »Wir hatten Vertrauen…«
»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen«, erwiderte Michael, ebenso sanft. »Es wurde geheimgehalten. Kaum jemand war unterrichtet.«
»Und Amos?« flüsterte ich.
Er sah mich an; der bittere Ausdruck veränderte sich. Er fand sichtbar in sein wirkliches Alter zurück. Seine Antwort klang leise und höflich.
»Er hatte Informationen gesammelt. Er hielt diese Dinge für möglich. «
Lastendes Schweigen. Iris zog ihre Strickjacke enger um ihre dünne Gestalt.
»Keiner hat auf ihn gehört, damals. Auch ich nicht. Mein Mann ist doch Deutscher. Ich fühle mich als Deutsche, auch heute noch. Und jetzt? Was soll aus uns nur werden…?«
Ihre Stimme brach. Sie zitterte.
Michael sagte:
»Mein Vater hat Geld nach Amerika geschafft. Schon vor Jahren, als Hitler die Wahlen gewann. Als die Nürnberger Gesetze erlassen wurden, sagte er, jetzt müssen wir auswandern.
Aber er hat zu lange gewartet. Er liebte Gemütlichkeit und Wohlbehagen, seine Bücher waren ihm wichtig. Und dann war es zu spät. ›Michael‹, sagte meine Mutter, ›wenn uns ein Un-glück passiert, bringe Yashale in Sicherheit. Schwöre mir, daß du es tun wirst! ‹«
Michael war schon im Widerstand, damals. Als er erfuhr, was mit seinen Eltern geschehen war, mußte er sich entscheiden: die Armia Krajowa oder die Auswanderung. Er hatte seiner Mutter ein Versprechen gegeben. Die Kameraden verstanden das.
»Ich gehe jetzt mit Yasha nach Amerika. Unsere New Yorker Verwandten bürgen für uns.« Er fügte hinzu: »Das Problem ist, aus Polen herauszukommen. Aber es gibt einen Weg.«
Er sagte, auf der ganzen Welt gäbe es nur ein einziges Land, das von jüdischen Flüchtlingen kein Einreisevisum verlangte: Curaçao, eine Insel der Antillen, holländisches Kolonialgebiet.
Jüdische Flüchtlinge mit einem japanischen Transitvisum konnten über Sibirien nach Japan reisen, um sich von dort aus nach Südamerika einzuschiffen. Rußland besetzte die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Große Truppenverbände waren dort stationiert. Aber der japanische Konsul in Kaunas, der Hauptstadt Litauens, war befugt, ein solches Transitvisum auszustellen. Von sowjetischer Seite war ihm bestätigt worden, daß man die Flüchtlinge durchlassen würde.
»Sie sollten auf alle Fälle hier weg«, sagte er zu Iris. »Vielleicht kommen Sie gleich mit. Bis Kaunas sind es nur achtzig Kilometer. Wir können es schaffen.«
Ich hielt den Atem an. Hoffentlich sagte sie ja. Hoffentlich!
Doch sie antwortete:
»Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Ich fühle mich gar nicht gesund.«
Er rutschte verlegen hin und her. Plötzlich sagte er:
»Die Zeit drängt. Die deutsche
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