Seidentanz
Wenn er nicht sprach, blickte er düster drein. Goldstein gehörte zu den Beauftragten, die Chiune Sugihara, den japanischen Konsul in Kaunas, um Hilfe gebeten hatten. Wären es nur einige gewesen, hätte Sugihara die Visa ohne weiteres erteilt. Aber nun waren es mehrere Tausend, die das Konsulat belagerten, und stündlich kamen neue dazu. Sugihara telegrafierte dreimal mit dem Au-
ßenministerium in Tokio und bat um die Erlaubnis, den Juden das Visum zu gewähren. Dreimal kam der abschlägige Bescheid. Schroff ersuchte ihn das Ministerium, sich nicht eine Unbotmäßigkeit zuschulden kommen zu lassen. Japan stand im Begriff, der Achse Deutschland-Italien beizutreten; den Juden zu helfen, galt als Verrat. In seinem letzten Schreiben an Sugihara teilte ihm das Außenministerium mit, daß so viele Flüchtlinge aus Sicherheitsgründen in Japan nicht willkommen seien.
»Sugihara hatte die Wahl zwischen seiner Pflicht und seinem Gewissen«, sagte Goldstein. »Er hielt Zwiesprache mit sich selbst. Seine Pflicht wurde ihm von den Menschen aufgetragen, sein Handeln aber hatte er vor Gott zu verantworten. Am 29.
Juli, bei Tagesanbruch, ließ er mich in sein Büro kommen. Ich hatte die Nacht unter freiem Himmel verbracht, wachend und betend. Der Konsul stand am Fenster, die Hände auf dem Rük-ken verschränkt. Als ich in das Büro trat, wandte er sich langsam um. Er grüßte verhalten, deutete ein Lächeln an.
›Sie sehen müde aus‹, sagte er auf Russisch, eine Sprache, die er besser beherrschte als Polnisch.
›Wahrscheinlich bin ich das sogar‹, antwortete ich. ›Um die Wahrheit zu sagen, ich habe in dieser Nacht kein Auge zuge-tan.‹
›Nun, Sie waren gewiß nicht der einzige‹, entgegnete Sugihara, und schaute wieder zum Fenster hinaus. ›Nessun dorma‹, zitierte er, mit wehmütigem Lächeln. ›Gehen Sie gerne in die Oper, Herr Goldstein?‹
›Gewiß. Und ich hatte stets ein Faible für Puccini. Aber die Warschauer Saison hat Wagner auf dem Spielplan.‹
Der Konsul ließ sein leises, weiches Lachen hören. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. ›Herr Goldstein, ich bin an die diplomatische Karriere gebunden mit den Banden der Neigung, in Ermangelung derer der Vorsicht. Sie sind der erste, den ich es wissen lasse: Hier endet meine Laufbahn.‹«
Als sich die Tür des Konsulats im frühen Dämmerlicht öffnete, lief eine Bewegung durch die Menge, begleitet von einem Gemurmel, das von allen Seiten anschwoll. Aus der Tür trat ein Japaner: schlank, mittelgroß, dunkel gekleidet. Die Militärposten salutierten. Iris erhob sich, fröstelnd in ihrem schwarzen Mantel. In der Nacht war die Temperatur gefallen. Schlaftrunken kam ich neben ihr auf die Beine. Die Knochen, der Kopf, mein ganzer Körper tat mir weh. Um uns herum war kein Laut zu hören, als Chiune Sugihara sich dem Tor näherte. Nur verzweifelte Blicke. Und die Angst. Die abgründig hoffnungslose Angst, die jedem an die Kehle griff. Das persönliche Erscheinen des Konsuls erhöhte noch das Entsetzen. Inzwischen trat der Japaner ganz nahe an das Gitter heran. Ein paar stumme Sekunden lang betrachtete er die Menge, mit einem seltsamen Glitzern in den Augen. Dann hörten wir seine Stimme, eine Stimme, die ich niemals vergessen werde, nicht nur, weil sie helfende Worte sprach, sondern weil ihr Tonfall so rücksichts-voll, so höflich war. Beim Klang dieser Stimme ging ein Beben durch die Menge. Zerlumpte Männer, alte und junge, zitterten vor Ergriffenheit; Tränen liefen über ihre schmutzigen Wangen.
Wir hofften alle, dem Tod zu entrinnen; Höflichkeit erwarteten wir nicht, sie war uns fremd geworden, schon seit Jahren. Der japanische Konsul sprach zu uns, freundlich und verständnisvoll, wie zu seinesgleichen. Und wir, die »Untermenschen«, das »Judenpack«, empfingen diese Höflichkeit wie einen uner-meßlichen Schatz, der uns geraubt worden war. Das feinfühlige Entgegenkommen dieses Mannes brachte uns die verlorene Würde zurück, befreite uns von allen Kränkungen, rief uns zum Leben auf.
»Guten Morgen«, sagte der Japaner in klarem, etwas stok-kendem Polnisch. »Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich die Visa ausstelle.«
Schweigen; ein paar Sekunden lang rührte sich keiner. Dann brandete ein ungeheurer Lärm über den Platz; die Menschen schrien, brachen in Schluchzen aus, umarmten einander oder streckten die Arme aus und beteten. Erneut hob der Konsul die Hand. Jene, die vorne standen, bedeuteten den anderen, still zu sein. Die Menge
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