Seidentanz
keinen Menschen. Yukiko Sugihara setzte sich an einen altmodischen Schreibtisch mit Roll-deckel, riß einen Zettel von einem Notizblock ab und schrieb mit akkurater Schrift einen Namen auf. Sie fügte einige japanische Schriftzeichen hinzu und händigte Iris den Zettel aus. Ich las den aufgeschriebenen Namen laut vor.
»Dr. Fumi Ota.«
Frau Sugihara lächelte mir zu.
»Sie ist Ärztin. Wir gingen zusammen zur Schule und stehen auch heute noch im Briefwechsel. Vor einigen Monaten verlor Fumi ihren Mann und übernahm eine Privatpraxis in Kobe. Sie hat eine Tochter in Ihrem Alter, Hanako.«
Zu Iris sagte sie:
»Wenn Sie in Japan Schwierigkeiten haben, wenden Sie sich an Fumi. Sie spricht etwas Deutsch, obschon sie vieles vergessen haben wird. Wer bei uns Medizin studiert, lernt Deutsch als Pflichtfach. Nur wenige Japaner sprechen Fremdsprachen«, setzte sie mit sanftem, ironischem Lächeln hinzu. »Aber wenn Sie dieses Papier vorzeigen, wird man Ihnen den Weg weisen.«
Die Tür sprang auf. Ein etwa fünfjähriger Junge stürmte in den Raum. Er hatte nicht erwartet, Fremde anzutreffen, und schmiegte sich an seine Mutter. Dieses Kind hatte eine Haut von ganz gleichmäßiger, wächserner Farbe. Die Mandelaugen unter den Ponyfransen waren groß und verschmitzt.
»Mein ältester Sohn, Hiroki«, sagte Frau Sugihara. »Sein Bruder Chiaki ist noch keine zwei Jahre alt.« Sie zog das Kind auf ihren Schoß.
»Als Hiroki die vielen Menschen vor dem Haus sah, wollte er wissen, was sie dort machen. Ich sagte zu ihm: ›Böse Menschen wollen sie fangen und töten.‹ Hiroki antwortete: ›Aber Papa wird sie retten. ‹«
Der Kleine gluckste verlegen. Die Mutter strich ihm das dunkle Haar aus der Stirn.
»Er hatte nicht den geringsten Zweifel. Und es wäre wirklich nicht gut gewesen, diesen kleinen Jungen zu enttäuschen, meinen Sie nicht auch?«
Iris lächelte mit erschütternder Zärtlichkeit.
»Er ist ein Engel.«
Es wurde Zeit, daß wir Abschied nahmen. Wir ahnten nicht, daß das Schicksal uns noch ein zweites – und letztes Mal – mit Chiune und Yukiko Sugihara zusammenführen würde. Aber ich greife vor. Denn kaum hatten wir das Konsulat verlassen, als Iris wachsweiß im Gesicht wurde. Ihre Beine versagten; unter größter Anstrengung führte ich sie in unser Zimmer zurück, entkleidete sie und brachte sie zu Bett. Ihr Körper war heiß und trocken, von heftigem Fieberfrösteln geschüttelt. Der Schüttel-frost legte sich nach ein paar Stunden, die Temperatur sank. Iris lag ganz still, leise röchelnd; nur ihre Hände zuckten krampf-haft auf der Bettdecke.
Um es kurz zu machen: Iris war fast drei Wochen lang reise-unfähig. Die Fieberanfälle kamen und gingen. Vorübergehend wurde es ihr schwarz vor Augen, ihre Arme kribbelten, sie konnte das linke Bein kaum bewegen. In dieser Zeit wurde die Lage sehr bedrohlich. Litauen gehörte zum sowjetischen Gebiet, die Russen sperrten alle Grenzen. Das japanische Konsulat war geschlossen worden. Das Außenministerium hatte den Konsul und seine Familie nach Berlin beordert. Wir erfuhren, daß sie im Hotel »Metropolis« auf ihre Abreise warteten. Sugihara, der seit drei Wochen ununterbrochen Visa unterschrieben hatte, wurde auch im Hotel von jüdischen Flüchtlingen belagert. Bei der Schließung des Konsulats hatte er Stempel und Dokumente nach Berlin abschicken müssen. Nun schrieb er die Passierscheine mit der Hand.
Iris’ Zustand besserte sich. Die Krankheit gewährte ihr oft eine Frist, die trügerische Hoffnungen aufkommen ließ. Die Kopfschmerzen ließen nach; Arme und Beine gehorchten ihr wieder, wenn auch nur mit Mühe. Wir schleppten uns zum Bahnhof, tauchten in ein menschenüberfülltes Chaos ein. Nur vereinzelte Züge verließen Kaunas. Die Soldaten, die an die Front befördert wurden, hatten Vortritt. Heimkehrende Massen von schreienden Reservisten, manche schwer verwundet, belagerten die Bahndämme, rauften und prügelten sich um einen Sitzplatz im Abteil. Wir erlebten Feigheit, Dummheit, heillose Verwirrung und in diesem Schlamm von Roheit manchmal die rührendste Hilfsbereitschaft und Güte. Die Züge wurden auf den Gleisen hin und her geschoben. Viele Tausende waren auf der Flucht. Sobald eine Abfahrt gemeldet wurde, stürmten die Menschen mit ihren Habseligkeiten alle Wagen. Es war der erste September, frühmorgens, als wir den Konsul und seine Familie zum letzten Mal sahen. Sie bestiegen den internationa-len Zug nach Berlin. Militärwachen bahnten ihnen
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