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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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erfuhren wir die niederschmettern-de Nachricht: Am 21. und 22. Juli – fünf Tage zuvor also –
    waren die drei baltischen Staaten Sowjetrußland beigetreten.
    Die Russen hatten die Japaner ersucht, bis Ende August das Konsulat zu räumen. Der Konsul war nicht mehr ermächtigt, die Visa auszustellen. Die Welt brach zusammen. Soviel Mühe, Ausdauer, Strapazen: wozu? Wir hatten keinen Mut mehr, keine Hoffnung. Wir konnten uns kaum noch auf den Beinen halten, wir waren so müde, uns war so kalt, mitten im Sommer.
    Doch wir hörten Gerüchte: Der japanische Konsul hatte Mitleid mit den Juden, suchte Beistand auf offiziellem Weg, um ihnen die Visa zu gewähren. Die Verzweiflung belebte unsere letzten Kräfte. Wir schlossen uns der Menge an, die das Konsulat belagerte. Die Flüchtlinge verstopften die Straßen, die Durchgänge zwischen den Häusern. Ihre Zahl wuchs ständig an. Sie stießen und drängten sich vor, schrien, flehten, versuchten über das Gitter zu klettern. Militärposten hielten sie zurück. Der ganze Platz war eine Masse aus Mänteln, Mützen, Lumpen, Bärten. Der Lärm brandete unaufhörlich. Iris und ich waren fast die einzigen Frauen. Die meisten Jüdinnen waren mit ihren Männern, Brüdern oder Söhnen gekommen. Da ein Visum für eine ganze Familie galt, waren es vorwiegend Männer und halbwüchsige Jungen, schlotternd, zerlumpt und elend, die Tag und Nacht vor dem Konsulat warteten. Im Laufe der nächsten drei Tage kamen wir, von der Menge gedrängt und geschoben, ziemlich nahe an die Gitter heran. Abwechselnd besorgten wir etwas Nahrung oder gingen, um unsere Notdurft zu verrichten.
    Iris hatte mir eingeschärft, mich um keinen Preis von der Stelle zu rühren, falls sie einmal nicht zurückkehren sollte. Mit oder ohne sie sollte ich das Visum beantragen. Wir schliefen auf dem Boden, an die Taschen gelehnt, die unsere Habseligkeiten enthielten. Sterne beleuchteten das niedergekauerte, in tiefer Erschöpfung dösende Menschengewirr. Aus der Masse erhob sich ein endloses Seufzen, Schnarchen, Wimmern, Stöhnen, Husten. Gebete wurden gesprochen, ein paar Strophen leise gesungen. Unsere Gesichter inmitten dieser Menge waren nicht mehr die unseren: Wir waren ein Teil dieser Elenden, dieser Ärmsten unter den Armen, deren Atem und Geruch uns umgab.
    Geächtete unter Geächteten, Menschen desselben Weges, Glück und Unglück gleichermaßen ausgeliefert, gleich vor dem Leben, dem Schmerz und dem Tod. Und ich dachte: Von nun an werden sie meine Kameraden sein.
    Tagsüber kam es vor, daß sich an einem Fenster des Konsulats eine Gardine bewegte. Eine schlanke Frau und ein kleiner Junge zeigten sich hinter der Scheibe. Dann entstand Bewegung in der Menge. Die Flüchtlinge riefen dem Kind Koseworte zu oder schnitten Grimassen, um es zum Lachen zu bringen.
    Manche weinten und streckten die Arme nach ihm aus, als ob dieses Kind die Macht hätte, etwas zu bewirken. Nach einer Weile fiel die Gardine wieder zu.
    An dieser Stelle muß ich meine Schilderung unterbrechen und kurz über Nathan Goldstein berichten, den wir ein paar Wochen später kennenlernen sollten. Nathan Goldstein erzählte uns nämlich, was sich in diesen Tagen im Konsulat abgespielt hatte. Goldstein war Präsident der Vereinigung polnischer Flüchtlinge, einer Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Juden die Rückkehr nach Israel zu ermöglichen.
    Goldstein sammelte Spenden, verhandelte mit russischen und japanischen Reiseunternehmen. Güterzüge beförderten die Flüchtlinge durch Sibirien. Einmal in der Woche verkehrte das Dampfschiff Harbina-maru zwischen Wladiwostok und dem japanischen Hafen Tsuruga. Die Reise kostete zweihundert Dollar, fünfzehnmal mehr als der Normaltarif. Von Seiten der Russen war es glatter Betrug, aber die Flüchtlinge hatten keine Wahl, wollten sie mit dem Leben davonkommen. Die Jüdische Vereinigung streckte den Mittellosen die Summe vor. Von Nathan Goldstein sollten wir auch erfahren, daß Michael und Yasha ihr Visum rechtzeitig erhalten hatten und sich auf dem Weg nach Japan befanden.
    Goldstein war mittelgroß, kräftig und mit vierzig Jahren bereits kahl. Er hatte einen dunklen, besonnenen Blick; seine Fingernägel waren stets makellos, seine abgetragenen Schuhe jeden Tag geputzt. In Warschau hatte er eine Zeitung herausge-geben. Seine Frau und seine beiden Söhne waren in Amerika in Sicherheit. Seine Mutter, seine zwei jüngeren Schwestern, ihre Männer und ihre Kinder hatte er in Treblinka verloren.

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