Seidentanz
für kleine Kinder. Er ist in uns, in jedem von uns; ob er existiert oder nicht, hängt einzig und allein von uns selbst ab.
Die kleine Lampe flackert; der Strom ist schwach. Ich schreibe mit müden Augen die letzten Zeilen. Das Tagebuch werde ich dir geben, Hanako. Du wirst es für mich aufbewah-ren; mit dem Schmuck. Die Nacht ist pechschwarz; der kalte Novemberwind kratzt draußen am Haus, wie Fingernägel über ein Waschbrett. Die Dämmerung ist keine Stunde mehr entfernt. Gestern, Hanako, hast du mir eine Rolle »Freundschafts-bänder« geschenkt, jene zarten, dünnen Bänder, die Freundes-hände zwischen Deck und Kai im Augenblick des Abschied-nehmens miteinander verbinden. Ich werde drei Bänder in der Hand halten – für Fumi, für Sada und ein blaues für dich, Hanako, weil Blau deine Lieblingsfarbe ist.
Am Kai liegt das abfahrtbereite Schiff. Bald wird die Sirene heulen, der Dampfer auf seine große Reise gehen, über den Stillen Ozean. Wir werden die Bänder so lange halten, bis sie unseren Händen entgleiten. „Weine nicht, meine liebste, klare und starke Schwester! Sie flattern, diese Bänder, der Kriegs-wind weht sie empor, trägt sie fort; sie werden niemals zerrei-
ßen.
29. Kapitel
D as Licht der Stehlampe warf einen hellen Kreis auf den Mattenboden. Ich schloß das Tagebuch, legte es neben mich auf den Futon. Dann streckte ich mich aus, schmiegte mich an Kunio; er umfaßte mich mit beiden Armen. Ich hatte, während ich las, für ihn übersetzt und kaum gespürt, wie anstrengend das war. Jetzt mischte sich alles, die erregte Müdigkeit zwischen zwei Sprachen und inmitten ungeordneter Bilder, die Leas Aufzeichnungen in mir hinterließen. Zuerst hatte ich mich kaum betroffen gefühlt. Meine unmittelbaren Vorfahren waren mir bisher so unbekannt, daß ich es nicht der Mühe wert fand, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich existierte eben. Dieser Eindruck täuschte. Wenn ich die Aufzeichnungen noch einmal durchlas, würde ich eine Verbindung finden, Gefühle entdek-ken, die wir gemeinsam hatten. Da lief eine Kette, die mich einschloß. Die Welt dieser Menschen war auch die meine, ich sprach ihre Geheimsprache, ich konnte ihren Pulsschlag noch fühlen. Das brachte mich an den Rand meiner Kraft; ich klapperte sogar mit den Zähnen. Kunio sagte nichts, umarmte mich.
Schließlich sagte ich mit belegter Stimme:
»Was hast du dir dabei gedacht?«
Ich fühlte, wie er tief atmete.
»Daß ich sehr nahe daran war, dich niemals zu kennen. Wäre Lea nicht gerettet worden, gäbe es dich nicht.« Er wiederholte, in Gedanken: »Ich habe das ein paarmal gedacht. Ich weiß gar nicht, wie oft… «
Ich nickte.
»Du hast schon recht. Und ich könnte von dir das gleiche sagen. Wäre Hanako in Nagasaki gestorben…«
»Ja. Seltsam, nicht wahr?«
»Wenn wir beginnen, uns über diese Fragen den Kopf zu zerbrechen, wo wäre da ein Ende?« sagte ich.
»Und wie ging es weiter mit Lea, damals?«
»Mit dem Überfall auf Pearl Harbor trat Japan gegen Amerika in den Krieg ein. In New York hatte sich Lea mit Michael in Verbindung gesetzt und wohnte bei seiner Familie. Als die amerikanischen Truppen in Europa landeten, war Michael als Freiwilliger dabei. Nach Kriegsende erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft und nahm sein Studium wieder auf.
Mein Großvater Thomas von Steinhof soll in einem Lager umgekommen sein. Von Leas Großeltern und Tante Hannah fehlt jede Spur. Was Yasha betrifft, weiß ich lediglich, daß mein Vater einen Bruder hatte, der mit siebzehn an Schwind-sucht starb. Eine Art musikalisches Wunderkind, wie mir gesagt wurde. Inzwischen ging Lea zur Ballettschule und übte sich im Vergessen. Sie machte das sehr gewissenhaft. Über Amos – der ja schließlich mein Großonkel war – hat sie selten ein Wort verloren. ›Und was wurde aus ihm, Lea?‹ ›Er kam ums Leben.‹ Und Punkt. Ich kenne sie nur, wie sie heute ist: stark und manchmal zynisch. In ihrem Tagebuch kommen ganz andere Wesenszüge von ihr zum Vorschein. Laß mich nachdenken… Wann heirateten meine Eltern? Ich glaube, es war 1958. Sie wanderten nach Israel aus, wo mein Vater ein Institut leitete und ich auf die Welt kam. Aber Michael konnte das Klima schlecht vertragen. Ich war zwölf, als wir in die Schweiz zogen. Eigentlich sah ich meine Eltern nur wenig. Mein Vater war viel auf Geschäftsreisen im Ausland, und Lea gab Gastspiele.«
»Und jetzt bist du in Japan. Bei Hanako.«
»So etwas kann man nicht
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