Seidentanz
schwappte bleiern in mir. Nach einer Weile ging die Tür wieder auf; eine noch junge Frau im weißen Ärztekittel trat in den Raum und sah mich durch ihre Hornbrille prüfend an. Ihr Haar war kurz geschnitten; man sah, daß sie nicht viel Zeit ver-schwendete, sich zurechtzumachen. Trotz der Sanftheit ihrer Züge hatte sie etwas an sich, das sie selbstsicher und entschieden wirken ließ.
»Guten Abend«, sagte sie auf Deutsch. »Was kann ich für Sie tun?«
Fumi Ota sprach jedes Wort sehr besonnen aus, so daß ich sie verstand. Ihre Kenntnisse der deutschen Sprache waren mangelhaft; ausreichend jedoch, daß wir uns verständigen konnten. Sie wollte wissen, wie es ihrer Schulfreundin ging. Ich schilderte ihr unsere Begegnung im Konsulat. Und ich erzählte ihr, was mit den Juden in Europa geschah und wie es uns ergangen war. Fumi Ota zeigte sich aufs tiefste erschüttert. Auch in Japan herrschte Nachrichtensperre. Daß Flüchtlinge aus dem kriegsgeschädigten Europa zu Tausenden emigrierten, war bekannt, aber Einzelheiten drangen nicht an die Öffentlichkeit.
Dr. Ota erklärte mir, daß sie eigentlich auf Geburtshilfe und Frauenkrankheiten spezialisiert war. Doch Japan kämpfte in Burma und Malaysia. Das Kriegsministerium schickte alle Ärzte in die Krankenhäuser, wo täglich Verwundete eintrafen.
Da Fumi Ota ihre Praxis nicht schließen wollte, arbeitete sie von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein. Viele von den Frauen, die Dr. Ota aufsuchten, waren mittellos, aber keine kam vergeblich zu ihr. Die junge Krankenschwester war ihre Tochter, Hanako. Die Ärztin erkundigte sich nach meiner Mutter. Was ihr denn fehlte? Ich versuchte ihr die Symptome zu beschreiben. Sie sagte, daß sie meine Mutter sehen wollte. Wir machten uns auf den Weg zum Lager. Ich begriff, daß sie sich diese Zeit von ihrer ohnehin knapp bemessenen Ruhezeit stahl.
Sie untersuchte Iris lange und gründlich. Der Befund war eindeutig: Gehirntumor. Ich fragte:
»Wie lange sie wohl krank sein wird?«
Ausflüchte lagen Dr. Ota nicht. Sie hatte ein klares Bild von mir gewonnen und wußte, daß ich die Wahrheit ertragen konnte.
»Ich weiß es nicht, Lea-San. Sie müßte operiert werden, aber dafür sind wir nicht eingerichtet. Es könnte auch sein, daß sich der Tumor von selbst zurückbildet. Es kommt darauf an, wieviel Widerstandskraft sie aufbringt. Sie braucht jetzt Ruhe und jemanden, der sie richtig pflegt.«
Sie ließ mir Medikamente da und versprach, wiederzukom-men. Die Mittel halfen erstaunlich gut; Iris erwachte aus ihrer Ohnmacht; die Krämpfe beruhigten sich. Als die Ärztin am nächsten Tag kam, war Iris wieder ganz heiter, fröhlich sogar, und dankte ihr tief bewegt für ihre Hilfe. Hanako hatte ein deutschjapanisches Wörterbuch bei sich; so kamen wir zu unserem ersten Gedankenaustausch. Eigentlich wollte Hanako Medizin studieren, wie ihre Mutter. Aber der Krieg, nicht wahr?
Wir lächelten uns zu, verständnisvoll und bedauernd. Die starke Zuneigung, die wir füreinander empfanden, sprach aus jedem Blick, aus jeder Bewegung. Sobald sich Iris erholte, kam ihr ganz besonderer Charme, dieses Strahlende, zum Vorschein.
Ihr Haar glänzte wie Ähren, von der Sonne gereift, ihre Augen funkelten grün und klar. Sie fühlte den brennenden Wunsch, wieder gesund zu sein, glaubte, daß sie in ein paar Tagen wieder reisefähig sein würde. Die Ärztin betrachtete sie voller Sympathie. Sie freute sich auch, wieder Deutsch sprechen zu können. So gut verstanden und unterhielten sich die beiden Frauen, daß die Japanerin Iris den Vorschlag machte, eine Zeitlang bei ihr zu wohnen.
»Sie wären dort soviel glücklicher. Und Sie könnten ruhig schlafen – das ist für Sie das allerbeste. Der Schlaf heilt.«
Iris lehnte zuerst ab; sie wollte die Situation nicht ausnutzen und niemandem zur Last fallen. Doch Fumi Ota bat sie so herzlich zu kommen, daß sie schließlich die Einladung annahm.
Natürlich ging es nicht ohne Schwierigkeiten. Die Einwande-rungsbehörden zeigten großes Mißtrauen. Dr. Ota mußte eine Bescheinigung unterschreiben, daß sie die Kranke nur aus Gründen der Rekonvaleszenz vorübergehend beherbergte. So kamen wir für einige ruhige, friedliche Wochen in Fumi Otas Haus. Und so wurden wir Freundinnen, Hanako.
Ich kann eigentlich nicht sagen, wie es geschah; ich kann nur sagen, daß es eben so war. Ich spürte die Gedanken ihres Herzens, wie sie die meinen spürte. Wir vergaßen, daß wir nie in unseren eigenen Sprachen
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