Seidentanz
war still, vielleicht zu still für mein Alter. Ich sprach wenig, hörte aufmerksam zu und beobachtete alles. Zwischen dem Dorfkern – wo ich zur Schule ging – und unserem Haus im Schrein-Bezirk lagen Reisfelder; dort quakten im Sommer unzählige Frösche. Heute haben Pestizide fast alle Frösche vernichtet, aber als ich zur Schule ging, war die Luft von ihrem Quaken erfüllt. Von diesem Geräusch ging eine Betäubung aus. Die Frösche schwiegen nur im Juni, beim Fest des ›Setzens der Stecklinge‹. Dann erschienen alle Bauern in der alten, farbenfrohen Tracht. Die Priesterinnen segneten die Reisfelder. Frauen und Männer standen bis zu den Waden im Wasser. Zum Klang der Trommeln und Flöten setzten sie in planmäßiger Reihenfolge ihre Stecklinge, immer mit der gleichen Bewegung von rechts nach links und rückwärtstre-tend, mit der gleichen Genauigkeit und Ausdauer wie schon vor zweitausend Jahren. Japan ist ein Land der Beständigkeit. Ragten die Schößlinge aus dem Wasser, bildeten sie hochaufge-schossene Lanzenspitzen, die in der Sonne funkelten. Mücken tanzten im Licht, und im warmen Wasser quakten die Frösche.
Ich kam spät aus dem Unterricht, weil es auf dem Schulweg so viel zu beobachten gab. Bäume und Felsen und Steine waren mir bekannt wie Freunde, mit denen man rechnen kann, Jahr für Jahr. Die Farben der Obstgärten, der kühle, dunkle Teich, in dem kleine Zierkarpfen schwammen, die alte Brücke, der schmale Fluß, in dem Männer stocksteif ihre Angelruten schwangen, all das gehörte zu der Landschaft, die mir vertraut war wie mein eigener Körper. Meine Mutter war besorgt, wenn ich mir zuviel Zeit auf dem Schulweg nahm. Sie wußte, daß ich manchmal eigentümliche Zustände hatte. Ich schien zeitweilig unter einer Art Gedächtnisschwund zu leiden. Wenn ich zum Beispiel ganz intensiv auf das Quaken der Frösche hörte, verlor ich den Kontakt mit der Wirklichkeit. Ich schlurfte vor mich hin, geistesabwesend, und fand mich plötzlich am anderen Dorfende wieder, oder im Wald, oder mitten auf der Landstra-
ße; wie ich dahin gekommen war, wußte ich nicht. Zum Glück ist die Gegend so beschaffen, daß sogar ein Kind nicht die Richtung verliert. Mir konnte auch nicht viel passieren, denn im Dorf und in der Umgebung kannten mich die Leute. Die Bauern bewirteten mich freundlich mit Milch, Obstsaft oder irgendeiner Nascherei. ›Wann war denn die Schule aus?‹ fragten sie mich. ›Um vier? Aber es wird doch schon dunkel! Mach schnell, daß du nach Hause kommst!‹ Ich gehorchte ohne Widerspruch. Manchmal waren es die Bauern, die mich mit dem Wagen oder dem Motorrad nach Hause brachten. Meiner Mutter war das peinlich, weil es den Eindruck erweckte, daß ich mir selbst überlassen war. Akemi schimpfte mit mir, aber die Großeltern zeigten viel Nachsicht. Sie warfen mir besorgte Blicke zu und behandelten mich wie ein rohes Ei. Mit meiner Schwester spielte ich sehr gerne, wobei ich oft das Gefühl hatte, daß ich ihr im Weg war. Sie war fröhlich, energisch, unbefangen. Wir spielten Stelzenlaufen, Federball; auch Baseball, ein Spiel, das ja eigentlich mehr für Jungen ist, das meine Schwester jedoch besonders liebte. Ich war ungeschickt und viel zu langsam, Rie hatte genau die richtigen Bewegungen. Sie wurde schnell ungeduldig: ›Du bist mondsüchtig, mit dir kann man nichts anfangen‹. Oft rief sie verärgert: ›Ach, was für einen langweiligen Bruder ich doch habe!‹
Die Bezeichnung ›langweilig‹ traf, glaube ich, nicht ganz zu.
Ich lebte in einer anderen Welt, in einer inneren Wildnis. Meine Eltern fragten mich, warum ich mich nicht mit anderen Kindern anfreundete. Ich schämte mich zuzugeben, daß mir neben der fröhlichen Phantasie, dem sprühenden Einfallsreichtum meiner Schwester alle anderen Kinder uninteressant erschienen.
Daneben war die wichtigste Person in meinem Leben die Großmutter aus Nagasaki. Die Eltern meines Vaters versuchten zwar, das Alte und das Neue miteinander zu verknüpfen, aber ihre Bemühungen endeten häufig damit, daß sie sich wieder zu Gunsten des Alten entschieden, weil es weniger anstrengend für sie war. Die Großmutter aus Nagasaki hatte nicht ihre ängstliche Vorsicht. Sie war bereits eine vielbeachtete Künstlerin; es kam vor, daß in den Zeitungen etwas von ihr stand.
Dann schnitt meine Mutter den Bericht aus und klebte ihn, mit vielen anderen, in ein besonderes Album. Hanako – die ich natürlich nicht Hanako, sondern ›Ehrwürdige
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