Seidentanz
miteinander gesprochen hatten.
Das Haus war klein – wie ich bereits sagte –, und wenn es keinen Raum gab, in dem wir allein sein konnten, war das ein Kummer für uns. Dr. Ota hatte Iris ihr winzig kleines Schlafzimmer gegeben, wo sie den Futon dicht zum Fenster rückte, damit die Kranke frische Luft schöpfen und beim Erwachen den kleinen Garten sehen konnte, in dem eine Zwergkiefer sich anmutig über einen Steinhügel neigte. Alles in diesem Haus war blitzsauber, dafür sorgte Sadas unermüdliche Putzwut.
Sada, die Iris wie ihre eigene Tochter in ihr Herz geschlossen hatte, die sie kämmte und pflegte und genau darauf achtete, daß ihr Badewasser stets die richtige Temperatur hatte – denn das Bad spielt im Leben der Japaner eine wesentliche Rolle. Es war eine schwebende Zeit, eine Zeit der träumerischen Ruhe, unvergleichlich. Iris schlief fast den ganzen Tag, ruhig wie ein Kind. Ich faßte neue Hoffnung. Doch der Tumor zerrte an ihr, verzehrte sie. Mir fiel auf, wie sie immer dünner, immer schwächer wurde. Ihr Sehvermögen ließ nach; manchmal nahm sie uns nur als Schatten wahr. In Fumi Otas Gesicht stand Sorge, aber auch Ruhe und Gefaßtheit. Sie war zu aufrichtig, zu sachlich, um Iris in dem Glauben zu wiegen, sie werde wieder gesund. Als eines Abends die Schmerzen unerträglich wurden, hörte ich, wie beide Frauen leise miteinander sprachen. Dann wurde alles still. Behutsam trat ich in den Raum, um Iris gute Nacht zu wünschen. Das Fenster war zur Seite geschoben. Im dunklen Garten sang eine Zikade. Iris lag ganz ruhig, blaß, Schweiß auf der Stirn. Sie nahm meine Hand, streichelte sie und sagte:
»Lea, es geht mir nicht gut. Fumi hat mir Morphium gegeben. Sie meint, ich brauche das jetzt. Du verstehst es vielleicht.«
Ich schluckte und sagte:
»Ich verstehe es ein bißchen. Wird dir davon besser?«
»Die Schmerzen gehen weg.«
»Gut.«
Sie seufzte tief.
»Oft, wenn ich so daliege, komme ich auf merkwürdige Gedanken. Ich war nie fromm, weder als Jüdin noch als Katholi-kin, aber manchmal ist mir, als sei das alles vorgeschrieben gewesen, durch Jahre und Jahre bis zu dieser Stunde. Irgendwie hat das Ganze einen Sinn, wenn ich auch nicht genau sehe, welchen.«
Sie seufzte. Ihr Blick flackerte. Ich wußte, daß sie bald sterben würde. Dieses Gefühl war allgegenwärtig, im Spiel und im Lachen, im Schmerz und im Traum. Der Tod war immer da, hautnah. Ich fürchtete ihn nicht mehr; so jung, wie ich war, hatte ich Zeit gehabt, mich an ihn zu gewöhnen. Ich sagte zu Iris: »Denke nicht zuviel nach. Schlafe jetzt schön.«
»Gleich.«
Sie drückte meine Hand.
»Hier gefällt es dir, ich weiß. Aber du kannst hier nicht bleiben. Japan beteiligt sich an dem Krieg. Fumi sagt, es wird schlimmer werden. Du mußt fort. Nach Amerika.«
»Ja.«
»Michael ist da. Er wird gut für dich sorgen.«
»Das hat er mir versprochen.«
Sie schloß die Augen und flüsterte, wie zu sich selbst:
»Dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen.«
Ich schmiegte meine Wange in ihre Hand.
»Nein, nicht mehr. Wir haben so viele Freunde, jetzt.«
»Was meinst du, was könntest du später machen?«
»Ich will tanzen.«
»Du bist ganz aus der Übung gekommen.«
»Ich werde alles nachholen.«
»Glaubst du?«
»Ich bin sicher.«
Wir lächelten beide. Ihre zarten Finger bewegten sich, streichelten mein Gesicht.
»Ich habe keine Angst mehr, Lea. Ich bin so glücklich. Du und ich, wir haben sie erlebt, die Güte im Menschen. Das größ-
te Unglück wäre gewesen, zu sterben, ohne sie kennengelernt zu haben.«
Kobe, November 1941
Iris starb vor zehn Tagen in dem bewußtlosen Zustand, in den sie das Morphium versetzt hatte. Sie glitt von der Ohnmacht in den Tod; schmerzlos, ruhig. Ich war bei ihr, hielt ihre dünne Hand fest umfaßt. Sie war vollkommen blind, die untere Hälfte ihres Körpers gelähmt. Ich fühlte, wie ihre Hand zuckte und dann erschlaffte, bevor sie schwer und kalt wurde, wie damals meine Hand in ihrer, als wir hörten, wie Amos gestorben war. Und für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick fühlte ich, daß der Schmerz zurückkehrte, in meiner Kniescheibe pochte, mich ganz gefangennahm. Doch dann erkannte ich, daß Iris glücklich gewesen war, selbst am Ende.
Da wich die Bedrückung, der Schmerz verklang wie ein ferner Orgelton, der in unendlichen Räumen verweht. Etwas später hob Fumi Ota behutsam ihr Augenlied, berührte den Augapfel leicht mit dem Fingernagel und sagte, es ist vorbei.
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