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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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keinem Zusammenhang. «
    Ich streichelte das kleine Medaillon, das an meinem Hals glitzerte. Seitdem ich Iris’ Kette trug, spürte ich eine große Kraft in mir. Meine Großmutter war sehr stark gewesen. Es spielte keine Rolle, daß sie schon lange tot war. Wir hatten einander wiedergefunden.
    »Irgendwo muß einer sein«, meinte ich.
    »Ich glaube schon«, sagte Kunio.
    »Vielleicht fällt er dir wieder ein.«
    Kunio verzog die Stirn; das bewirkte, daß er jünger aussah und nicht älter, wie das bei Männern häufig vorkommt.
    »Ich denke, es ist eine ganz besondere Geschichte. Aber ich habe oft den Eindruck, daß sie nicht viel sagt. Wenn ich sie erzählen will, da fehlen mir manchmal die Worte. Auch heute noch. Deswegen spreche ich am liebsten nicht davon. Damals widerstand ich zum Glück der Versuchung, mich wichtig zu machen. Kinder nehmen solche Dinge weniger ernst. Sie leben mit Wunschbildern und spielen ihre Tagträume. Es gibt ein Lied darüber, wir singen es im Onjôkan. «
    Unbefangen begann er zu singen, eine unbeschwerte, schwingende Melodie, wobei er mit den Händen den Takt dazu klatschte, wie japanische Kinder es tun.
    »Sie spielen, was sie wollen,
    Sie singen, wie sie wollen,
    Sie tanzen mit den Füchsen,
    Sie schwimmen mit den Fischen.
    Die Mutter ruft, der Vater sucht,
    Sie kommen, wann sie wollen… «
    Er hielt plötzlich inne und schnippte mit den Fingern.
    »Da habe ich auch den Zusammenhang! Es hat etwas mit Musik zu tun. Mit der Zauberflöte. Und auch mit dem Wind…«
    »Die wahre Stimme Gottes?«
    Ich sprach mit leiser Ironie. Unsere Blicke trafen sich. Er lä-
    chelte und sagte im gleichen Ton:
    »So habe ich es auch empfunden.«
    30. Kapitel
    I n seinem Wagen, auf der Fahrt nach Miwa, begann Kunio zu erzählen.
    »Schon als kleines Kind habe ich dem Wind gelauscht und im stillen gedacht: Was für ein seltsames Wesen ist doch dieser Wind! Er ist sehr merkwürdig und ein bißchen unheimlich. Und doch fühlte ich mich ganz vertraut in seiner Nähe. Im Laufe der Jahreszeiten lernte ich zu verstehen, wie mächtig der Wind ist.
    Ich beobachtete die großen Bäume, die er zu bewegen vermochte, die knarrenden Äste, die wirbelnden Blätter. Wenn der Sturm über den Berg Miwa fegte, da empfand ich den Berg wie ein Meer, dessen Wellen die Baumkronen waren. Kannst du dir das vorstellen? Einen Berg aus grünen, schaukelnden Wogen!
    Ich starrte auf die Wipfel, die im Tosen des Windes hin und her schwankten. Durch diese Konzentration entstand ein ganz seltsames Gefühl in mir: Ich bildete mir ein, daß ich in einem Boot durch die Baumwellen glitt. Nachts träumte ich sogar davon.
    Die Träume kamen mir immer ganz real vor. Ich spürte, wie sich das Boot hob und senkte, und manchmal geriet ich sogar aus dem Gleichgewicht. Aber die Wogen trugen mich weiter, den Berg hinauf. Das Schiff wurde manchmal in die Luft ge-schleudert, als ob es sich in den Himmel warf, und dann sank es wieder tief in den Waldschatten ab. Alle meine Nerven vibrierten, und wenn ich mit dem Boot die Bergspitze erreichte, blickte ich weit auf die Ebene von Nara hinaus. Gleich unter dem Berg, auf der anderen Seite, sah ich das Grab der Yamato To-tohi Momoso-Hime, eine Tochter des siebten Kaisers, Korei.
    Die Sage erzählt, daß sie mit der Gottheit des Berges Miwa verheiratet wurde und Selbstmord beging, als sie die Wahrheit erfuhr: nämlich, daß ihr Gatte eine Schlange war. Sie nahm sich das Leben, indem sie Elfenbeinstäbchen, die sie als Eßbesteck brauchte, in ihre Scheide einführte. Der Miwa-Berg ist also ein heiliger Berg, dem Volk der Schlangen geweiht. Man hatte mir stets verboten, den Berg zu besteigen; es sei gefährlich, wurde mir gesagt. «
    Wir hatten die Außenbezirke verlassen und fuhren landein-wärts. Kunio fuhr gut, behielt immer die gleiche Geschwindigkeit bei, auch wenn er sprach. Das, was er erzählte, dieser Kin-dertraum, war mir seltsam gegenwärtig; ich kannte diese Empfindungen und Bilder, sie steckten auch in mir.
    »Sprich weiter«, sagte ich.
    »Ich war mit alten Sagen und Geschichten groß geworden.
    Verborgene Dinge erweckten meine Neugierde. In der Schule lernte ich gewissenhaft, aber uninteressiert. Alle Kinder gingen zur Schule; das war etwas, womit man sich abfinden mußte.
    Aber ich freute mich nicht auf den Unterricht; ich dachte überhaupt nicht daran. Das war eben meine Haltung in dieser Frage.
    Doch war ich kein Kind, das seinen Eltern Kummer bereitete, außer in ganz bestimmten Dingen. Ich

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