Seidentanz
Bedrohliches an sich. Im Gegenteil, der Baum rührte seinen Ast, behutsam wie eine Großmutter ihre Hand, um ein Kind zu streicheln und zu beruhigen. Auf einmal schaukelte der Ast, langsam und freundlich, als ob er dem kleinen Jungen zuwinkte. Unwillkürlich lächelte Kunio, hob den Arm und winkte zurück. Da löste sich der Ast; ein schweres, elastisches Gewicht fiel auf den Jungen herab. Eine drückende Last schnürte ihm Hals und Brust zusammen. Kunios Herz stand still. Er öffnete den Mund vor Erstaunen und Schrecken: Der Ast war eine Schlange, die größte, die er je gesehen hatte, und diese lag nun wie ein schmerzender Klumpen um seine Schultern. Ein andersgeartetes Kind hätte jetzt versucht, das Tier von sich zu stoßen, hätte sich gewehrt und geschrien. Doch Kunio saß unbeweglich, wie erstarrt, während die Ringe sich hoben, ihn enger umfaßten.
Die Augen des Tieres, leicht hin und her schwankend, bewegten sich dicht vor seinem Gesicht. Er spürte ein leichtes Kitzeln auf Kinn und Wangen. Es war die Zunge der Schlange, die ihn leckte. Der leichte Schweißfilm, der Kunios Haut bedeckte, sagte dem Tier offenbar zu. Kunio preßte die Lippen zusammen. Sein Herz schlug rasend; und eine Weile waren es nur sein Herz und die beweglichen Pupillen, die in ihm noch zu leben schienen. Vielleicht suchte die Schlange nur die Wärme des kindlichen Körpers, vielleicht fürchtete sie sich vor dem Gewitter. Diese lautlose, kräftige Umarmung war etwas sehr Eigentümliches – abstoßend und faszinierend zugleich. Kunio wußte, daß die Schlange seine Knochen und Gelenke zerdrük-ken konnte, aber auch, daß sie es nicht tun würde, wenn er sich richtig verhielt. Er versuchte den Atem anzuhalten, bis er nicht mehr konnte und keuchend nach Luft schnappte. Da merkte er, daß seine Atemzüge die Schlange ebensowenig erschreckten wie sein unterdrücktes Zähneklappern und die wilden Schläge seines Herzens. Er kam zu dem Schluß, daß die Schlange ihm nicht böse gesonnen war. Da verließ ihn die Angst.
Die Schlange lag schwer und klamm auf seinen Schultern, doch nach einer Weile kam sie ihm ganz vertraut vor. Das einzige, was er als wirklich unangenehm empfand, war die Kälte. Seine Hände und Füße fühlten sich wie Eisklumpen an.
Da er keine Bewegungen machen konnte, wiegte er sich leicht hin und her, um sich wenigstens wieder ein wenig zu erwärmen. Ein Zucken durchlief die Schlange; die Ringe spannten sich. Um sie zu beruhigen, begann Kunio leise zu pfeifen. Zuerst vermochte er kaum die Lippen zu spitzen. Schließlich gelang es ihm. Als sein Atem wieder regelmäßig ging, pfiff er die Andeutung einer Melodie. Die Schlange reagierte mit leichtem Druck. Da pfiff er lauter, wobei er den Oberkörper leicht im Rhythmus schaukelte. Die Schlange lag jetzt ganz ruhig auf seinen Schultern. Der Donner entfernte sich, die Blitze flackerten weit weg über den Reisfeldern. Und bald ließ auch der Regen nach; nur noch das Wasser tropfte von den Bäumen. Am Nachthimmel jagten Wolkenfetzen dahin, rissen ein Loch in das Dunkel, und darin funkelte der Mond, blank wie polierter Stahl, im Netz der Zweige gefangen.
32. Kapitel
D ie Vision in mir erlosch im selben Augenblick, als auch Kunios Stimme verstummte. Benommen fand ich in die Wirklichkeit zurück. In der Lichtung waren die Schatten grün und kühl, versunken in unantastbaren Frieden. Alles war still; nur ein Vogel piepste, und auch er piepste leise. Ich hatte ein seltsames Gefühl im Magen. Weilt man an einem heiligen Ort, so kann man es keine Sekunde vergessen. Die Kraft wirkt, ob man will oder nicht. Kunio saß ganz ruhig da, die Arme leicht über die Knie gefaltet. Seine Augen, auf mich gerichtet, waren ruhig. Und doch sah ich eine Verstörtheit darin. Hier kam die Magie zu ihm, dachte ich, auf diesen Steinen. Er gab diesen Dingen keinen übertriebenen Sinn, aber es war klar, daß er seitdem das Leben in einem anderen Licht sah.
»Und dann?« fragte ich.
Er bewegte ein wenig die Schultern, rieb sich den Nacken, als ob er das klamme Gewicht noch in der Erinnerung fühlte.
»Nun, die Schlange blieb bei mir, die ganze Nacht. Wie ich schon sagte, ich mußte etwas an mir haben, das dem Tier gefiel.
Der Geruch meiner Haut oder meines Blutes, der Atemrhythmus, vielleicht auch meine Stimme, wer weiß? Ich war ver-schrammt und todmüde und fror bis in die Knochen. So un-glaubwürdig es klingen mag, irgendwann empfand ich die Gegenwart der Schlange als tröstend – und schlief ein.
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