Seidentanz
eine Erleuchtung gehabt, eine dieser seltenen Erleuchtungen, die in religiösen Büchern beschrieben sind. Nicht nur ein biß-
chen Verstehen, das man später vertiefen kann, nein, sondern eine explosionsartige Erkenntnis, eine geistige Wiedergeburt.
Mir war nicht im geringsten klar, was eigentlich damit gemeint war, aber ich genoß es reichlich, im Mittelpunkt zu stehen. Für die Dorfbewohner war ich ein Yamabushi geworden, ein Heiliger, der in einer Sturmnacht übernatürliche Kräfte gewonnen hatte. Man begann, mich aufzusuchen, mir Geschenke zu machen und Wunder von mir zu erwarten. Die Medien – in Japan ebenso sensationslüstern wie anderswo – schalteten sich ein.
Fernsehteams reisten nach Miwa, Journalisten belagerten das Haus. Man interviewte die Dorfbewohner, die Lehrer, die Mitschüler. Man wollte mich auf dem Iwakura mit der Schlange fotografieren. Mir hätte das Spaß gemacht, doch die Schlange geruhte nicht, ihren Schlupfwinkel zu verlassen. Meine Eltern sahen diesen Rummel sehr ungern. Disziplin hatte mir nie gelegen. Bisher war ich weltfremd gewesen, jetzt wurde ich selbstgefällig, gab Erwachsenen unhöfliche Antworten und spielte den Kinderstar. Ich wurde zwölf und fiel in der Schule durch schlechte Leistungen und vorlautes Betragen auf. Meine Lehrer reizten mich durch ihre – wie mir schien – einzigartige Stumpfsinnigkeit. Nicht nur, daß ich mich ihnen haushoch überlegen fühlte, ich kam auch bald zu der Überzeugung, daß ich alles haben konnte, was ich wollte, wenn ich es nur nachdrücklich genug forderte. Das alles war schlecht für mich. Meine Eltern ergriffen die richtige Maßnahme: Sie schickten mich weg.
33. Kapitel
T akeo Matsuda, ein Vetter meines Vaters, leitete in Tokio ein Architekturbüro. Die Sache wurde so geregelt, daß ich –
gegen angemessenes Kostgeld – bei seiner Familie wohnen und eine Privatschule besuchen würde, die den Ruf hatte, daß die Lehrer sich besonders intensiv um die einzelnen Schüler kümmerten. Die Schule war sehr teuer, sehr exklusiv, aber das erfuhr ich erst später. Miwa war ein Dorf, in vieler Hinsicht noch hinter dem Mond. Mein Elternhaus, von fortschrittlichem Geist und strengen Konventionen geprägt, verband aristokratisches Raffinement mit ländlicher Schlichtheit. In Tokio erlebte ich eine völlig andere Welt. Ich wohnte nun in Seijo, in einem Viertel mit Einfamilienhäusern, gepflegten Gärten und ruhigen Straßen. Das Haus, ganz mit weißen Kacheln verkleidet, entsprach einer Bauart, die zu jener Zeit in Japan groß im Kommen war. Hinter einem schmiedeeisernen Tor lag ein Vorgarten, der gleichzeitig als Parkplatz für zwei Wagen diente. Vom Wohnzimmer aus fiel der Blick auf ein blaugekacheltes Schwimmbecken zwischen schön geformten Steinen. Ein Gärtner kam regelmäßig, ließ die wertvollen Büsche und Zwergkie-fern in wohldurchdachter Unordnung wachsen. Das Haus war mit blauem Teppichboden und erstklassigen Matten ausgelegt.
Onkel Takeo hatte die ziemlich kleine Wohnfläche durch die Höhe der Räume ausgeglichen. Das Haus, lichtdurchströmt wie ein Wintergarten, war trotzdem angenehm kühl in der heißen Jahreszeit. Designer-Möbel, handsignierte Lithographien und wertvolle Plastiken gaben der Einrichtung ihren exklusiven Rahmen. ›Das Haus ist meine Visitenkarte‹, sagte Onkel Takeo. ›Bevor mir die Kunden einen Auftrag geben, wollen sie sehen, wie ich meinen eigenen Lebensraum gestalte‹. Er war ein schlanker Mann, Anfang Fünfzig, betont salopp gekleidet, immer mit einem Seidentuch oder einer Schärpe um den Hals.
Das graue Haar trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Seine Frau Hiroko besaß ein Antiquitätengeschäft im vorneh-men Viertel Omote-Sando. Ihr Haar war kurz geschnitten und in weichen Locken um ihr Gesicht herumgelegt. Ihre zarte Haut war rosa gepudert, ihre Augen perfekt geschminkt. Sie trug Haute Couture – meist Hosenanzüge – und rauchte kleine, wohlriechende Zigarren, die die Aufmerksamkeit auf ihre eleganten Hände lenkten. Sie besuchte Auktionen und Galerien, zeigte in allen Dingen einen erlesenen Geschmack. Ihr Sohn Kazuo war ein Jahr älter als ich und wollte Journalist werden.
Wie Tiere, die sich auf einmal mitten im Wald begegnen, blickten wir einander in die Augen, und unsere Gefühle schwankten zwischen Argwohn und Neugierde. Kazuo kam mir ungeschliffen vor, während er meine Ausdrucksweise als geschraubt empfinden mochte. Da sich die Bewohner von Kansai für etwas Besseres halten, pflegen
Weitere Kostenlose Bücher