Seidentanz
schmerzvoll, als vermochte allein das Getöse ihn in Stücke zu reißen. Die Blitze ließen vor seinen Augen glühende Spuren und Zonen von rötlichen Adern zu-rück. Die Temperatur war plötzlich gesunken. Der Regen durchlöcherte ihn wie Nadeln, er klapperte mit den Zähnen und schwitzte zugleich. Da – wieder ein Blitz, weiß, von Violett durchstrahlt. Kunio blinzelte geblendet, stieß gegen einen herunterhängenden Ast. Er spürte so etwas wie einen Messer-schnitt. Die Kopfhaut platzte auf, Blut und Regen flossen dem Jungen über die Stirn. Er stolperte über Wurzeln, stapfte durch Schlamm und lockere Erde, und dann sah er etwas sehr Merkwürdiges: Die Wolken waren nicht mehr oben am Himmel, sondern im Wald. Sie wanderten ihm entgegen, wehten durch die Bäume wie Dampf. Nur ein paar Atemzüge noch, schon tauchte er in die weißen Schwaden ein. Jedesmal, wenn die Blitze aufleuchteten, huschten an den Wolkenrändern Flammensäume entlang, violett, blau, schwefelgelb. Einmal sah Kunio eine Krähe, die wie eine schwarze Kugel auf einem Ast kauerte; dann verschwand das Bild wie ein unruhiger Traum.
Der Regen fiel jetzt dünner, aber Kunio hatte völlig die Orien-tierung verloren. Das Gelände unter seinen Füßen senkte sich mal mehr, mal weniger, dann wieder überhaupt nicht. Kunio hatte das Gefühl, daß seine Welt auf den Mittelpunkt einer weißen Kugel zusammenschrumpfte. Die Kälte nahm zu. Die durchnäßten Kleider klebten an Kunios Haut. Im Schein der Blitze sah er Vögel in den Zweigen hängen, wie Fetzen; vielleicht waren es keine lebenden Geschöpfe, sondern die Phan-tome längst verstorbener Vögel, die im grünlichen Flackerlicht zu neuem Leben erwachten. Kunio klapperte mit den Zähnen.
Der Regen prasselte auf seinen Kopf. Haarsträhnen, mit Blut verklebt, hingen ihm in die Augen. Er hatte kaum noch Speichel im Mund, seine Kehle brannte. Er war so zerschlagen, so sterbensmüde, daß er sich kaum noch bewegen konnte.
Auf einmal sackte sein linker Fuß bis zum Knöchel in den Schlamm; als er ihn herauszerrte, blieb der Turnschuh stecken.
Seine eiskalten Finger gehorchten ihm kaum, und er vermochte den Schuh nicht aus dem Matsch zu ziehen. Er fror bis ins Mark, fühlte sich schwach und apathisch. Jeder Schritt kostete ihn unendliche Anstrengung und mußte trotzdem getan werden.
Allmählich gewann er den Eindruck, daß der Wald weniger dicht war. Unbeholfen humpelte er an Felsbrocken vorbei, die dunkle Buckel im Nebel bildeten. Schemenhafte Steingebilde wurden sichtbar. Als der Wind für einige Sekunden die Nebel teilte, glaubte er in kurzer Entfernung eine schwarze Masse und davor eine Art blitzenden Stab zu erkennen. Ein Traumbild?
Eine Halluzination? Plötzlich fiel es Kunio wie ein Schleier von den Augen: Der Iwakura, das alte Schwert! Die Quelle, für gewöhnlich ein Rinnsal, strömte wild und gurgelnd über den Hang. Kunio watete durch das knöcheltiefe Wasser, kroch unter der durchnäßten Shimenawa hindurch und zog sich an dem Felsen hoch. Das Moos war gefährlich glitschig, doch er fand eine geschützte Stelle zwischen zwei Felsblöcken. Über ihm krallte sich der Stamm einer Kiefer in die uralten Felsen. Die Krone, mächtig und breit in den Himmel ragend, bildete ein schützendes Dach. Bei jedem Blitz leuchteten die Nadeln mit weißlichen Reflexen wie wirkliche Nadeln. Kunio kauerte in dem Spalt, ein zitterndes Bündel, preßte die Arme an seine Brust. Er war erstarrt bis ins Mark. Nacken, Arme, Rücken, alles tat ihm weh. Der Donner fiel wie ein zermalmender Hammer auf die Bergflanke nieder, er jedoch hörte ihn nur wie durch Watteschichten. Sein Körper wurde von einem ununter-brochenen Schauer geschüttelt. Die Felsen rochen nach Moder und nassem Moos. Das Wasser schien nicht vom Himmel zu fallen, sondern aus den Bäumen selbst. Es sickerte wie Öl aus jedem Zweig, jedem Blatt und hatte die Gerüche der Bäume aufgesaugt, der Rinden und Wurzeln. Die Stämme und Äste und Zweige waren schwarz, und um die Blätter herum hing ein Regenschleier von grauer und silberner Farbtönung. Über Kunios Kopf bewegte sich ein Ast, verlängerte sich, glitt langsam herunter. Kunio entging dies nicht; doch alles verlangsamte sich und geschah wie im Traum. Von tiefer, unendlicher Mü-
digkeit gepackt, sah er die Dinge nur verschwommen.
Irgendwie war es seltsam, daß der Ast sich bewegte – und auch wieder nicht. Diese Nacht war voller Schrecken und Wunder, und darüber hinaus hatte der Anblick nichts
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