Seidentanz
Kinder auf ihre Verpflichtung hin.
›Sie verlangen nichts von uns, und das wird zu einer Art Er-pressung, findest du nicht auch?‹ meinte Rie.
Mir kam in den Sinn, daß sie recht haben mochte. Was immer ich gemacht hatte, dachte ich, habe ich gemacht, um mich von meinen Eltern abzusetzen. Sie schufen mit ihrer Nachsicht einen Druck, der schwer auf uns lastete.
Rie steckte sich eine Zigarette an, hielt mir das Päckchen hin.
Sie hatte sich in Kyoto das Rauchen angewöhnt.
›Du kommst, du reichst den kleinen Finger, schon nehmen sie die ganze Hand.‹
Ich zündete meine Zigarette an ihrer an. Wenn Akemi erwartete, daß Rie ihr von selbst jede Handreichung abnahm, wenn Kunihiko seine Sprüche klopfte: ›Den Rost von seinem Schwert kann man nur durch eigene Bemühungen entfernen‹
oder ›Nachdenken löst den Sinn aus den Worten‹, fühlten wir uns bevormundet und überfordert. Unsere Eltern hatten für uns einen Käfig gebaut. Sie ließen uns für eine Weile frei, aber die Käfigtür blieb offen. Gut abgerichtet, wie wir waren, flatterten wir wieder herein. Und dann machten sie die Tür zu. Rie hatte eine Freundin, die eine Frauenbuchhandlung leitete.
›Sie möchte mich gerne dabeihaben. Ich werde zusagen, ob es den Eltern paßt oder nicht.‹
Die Buchhandlung führte auch ein großes Sortiment von Aufklärungsbüchern sowie alle möglichen Broschüren und Zeitschriften, die über Empfängnisverhütung und Geschlechts-krankheiten berichteten.
›Aber du sagst Mutter nichts davon! Schon das Wort Feminismus hat für sie etwas Anrüchiges. Und sie ist halsstarrig. Ich stelle sie vor vollendete Tatsachen – fertig.‹
Wir saßen da und rauchten. Sandalen klapperten auf den Trittsteinen. Akemi erschien mit einem Wäschekorb. Über ihren Arbeitshosen trug sie eine Schürze, und in den Taschen steckten Wäscheklammern. Sie warf einen Blick auf die Zigaretten.
›Schon am frühen Morgen?‹ Ihre Stimme klang tadelnd.
›Der Rauch hält die Mücken ab‹, antwortete ich.
Rie sprang automatisch auf, die Zigarette im Mundwinkel, und nahm ihr den Wäschekorb ab. Beide Frauen machten sich an der Wäscheleine zu schaffen. Ich saß am Rande der Vorhalle und beobachtete sie. Rie war kräftig und gut gewachsen, ihre Beine im Minirock waren lang und braun. Akemis Haut war hell wie Elfenbein, ihre Bewegungen flink und gewandt. Ihr kräftiges schwarzes Haar wehte im Wind. Sie schminkte sich nur noch, wenn sie im Kimono erschien und ihren Haar-schmuck aus poliertem Silber mit dem Harada-Wappen trug.
Dann war sie atemberaubend schön. Selbst in Tokio sah ich selten eine Frau, die japanische Gewänder eleganter zu tragen wußte. Ihr Glück und ihre Loyalität hatten stets der Familie gegolten. Sie hatte ihren Mann umsorgt, die Schwiegereltern gepflegt, die Kinder großgezogen. Sie verwaltete den Haushalt, sie kochte, sie nähte. Sanft und nachgiebig? Sie erweckte diesen Anschein mit großer Geschicklichkeit. Aber die Zügel lagen in Händen, die das, was sie einmal hielten, niemals los-ließen.
Bald fing die Schule wieder an. Disziplin, Ordnung und Pflichtbewußtsein waren zu jener Zeit in Japan noch Werte, die man zu beachten hatte. Ich war kein Randalierer. Langweilte ich mich im Unterricht, störte ich keinen Menschen, sondern schlief mit offenen Augen. Sobald der Lehrer das Wort an mich richtete, schreckte ich verlegen auf. Zum Glück schlief ich nicht den ganzen Tag: Immerhin gab es Fächer, die mich interessierten. Daneben jobbte ich, um das Taschengeld aufzubes-sern. Ich verkaufte Karten für das Pferderennen, war Kellner in einer Cafeteria, wo hochnäsige Beamte vom Miti verkehrten.
Abends, nach Schulschluß, durchstreifte ich mit Kazuo die Viertel Shinjuku oder Shibuya. Bunt und vielfältig lockten die Neonschilder. Wir stürzten uns in das pulsierende Nachtleben, trieben uns in stets überfüllten Bars, Discos und Jazzkellern herum, manchmal auch in Porno-Schuppen. Für Alkohol hatte ich nur wenig übrig, aber ich trank Whisky, wie alle anderen, und spürte die Wirkung im Nu.
Kazuo hatte den Ruf, daß ihn Mädchen nicht besonders interessierten. Seine Eltern schenkten ihm Nachsicht. Mit ihm lernte ich einige Orte kennen, welche die Welt auf den Kopf stellten, und Menschen, die mich – eine Zeitlang – verwirrten.
Diese Gefühle erlebt jeder, man kann damit leben oder nicht, man muß sie hinter sich bringen. Wer kann helfen, wenn man sich quält? Nun, mich quälten sie nur eine Zeitlang, und ich hatte
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