Seidentanz
kein Nachsehen dadurch. Und obwohl Kazuo wahrscheinlich schöner als irgendein Junge war, den ich kannte, erweckte er keine dauerhaften Gefühle in mir, lediglich die Erkenntnis, daß ich eine Erfahrung machte. Und bald darauf lernte ich Misa kennen und benahm mich derart grotesk, daß ich mich im An-schluß daran noch monatelang schämte. Wir hatten uns auf einer Party getroffen. Misa hatte eine Haut wie Porzellan, große dunkle Augen und ebenholzschwarze Locken. Ihr Kleid aus grüner Shantungseide war tief ausgeschnitten und an den Hüften zerknittert. Ihre Wirkung auf mich war ausgesprochen fatal.
Ich trank mir so lange Mut an, bis mir schlecht wurde und ich die Party überstürzt verlassen mußte. Weit kam ich nicht. Im Vorzimmer drehte sich mir der Magen um. Ich erbrach mich…
in Misas Pumps! Zu Misas Vorzügen gehörte ein ausgeprägter Sinn für Humor. Sie rief am nächsten Tag an, fragte, wie es mir ginge. Sie wollte sich ein paar neue Schuhe kaufen. Ob ich Lust hätte, mitzukommen? Wir trafen uns in Shinjuku. Ich stotterte in klassischem Japanisch komplizierte Entschuldigungen.
Selbstverständlich wollte ich ihr die Schuhe bezahlen. Sie lehnte lachend ab. Die Schuhe interessierten sie nicht das mindeste.
Sie hatte es auf etwas anderes abgesehen. Noch am gleichen Abend landeten wir in einem Love-Hotel.
Die Geschichte fand ein abruptes Ende. Misa war die Tochter eines Managers im High-Tech-Bereich, und seine Firma schickte ihn für fünf Jahre nach London. Die Familie nahm er mit. Misa und ich wechselten entflammte Briefe, dann nur noch Neujahrskarten. Inzwischen traf ich andere Mädchen. Meldete sich bei mir so etwas wie Zurückhaltung, erlag diese schon beim ersten Geplänkel. Ich hatte zwar noch immer das Gefühl, daß meine Worte nie das sagten, was ich eigentlich sagen wollte, aber ich wußte inzwischen, daß ich den Mädchen gefiel, was mein Selbstbewußtsein ungemein stärkte, so daß ich bald einen gewissen Ruf erwarb. Kam mir meine eigene – tiefere – Art zu Bewußtsein, empfand ich Abneigung. Meine Selbstvorwürfe waren zweifellos ungerechtfertigt, denn sie betrafen auch meine Eltern. Eines jedenfalls war klar: Meine Neurosen würden noch eine Weile andauern und vielleicht nie ganz verschwinden. Ich hatte zu früh etwas erlebt, das mich anders gemacht hatte. Ich war erschreckend arglos, mondsüchtig am hellichten Tag. Ich konnte mich nicht als Intellektueller betrachten; ich hatte zwar Gedanken und Ideen, vermochte sie aber nie so vorzubringen, daß sie die anderen interessierten. Immerhin hatten die Mädchen Geduld mit mir und gaben mir das Gefühl, wenn auch nur für eine kurze Weile, daß sie mich verstanden.
Immer stärker empfand ich den Kontrast zwischen der Le-bensart meiner Eltern und meinem Leben in Tokio. Ich merkte bestürzt, daß zwischen ihnen und mir eine Verbindung bestand; daß ich ihnen ähnlicher war, als ich es wahrhaben wollte. Ich hatte mir die größte Mühe gegeben, mich abzusondern, sie in ihrem Wesen mißzuverstehen. Vergeblich. Das Dorf hatte mir die ersten Vorstellungen vom Gefühl der Dinge gegeben; nun waren meine Urbilder zertrümmert, trieben in konfusen Scherben in meinem Bewußtsein. Selten rückte ins helle Licht, was ich in dieser Sturmnacht auf dem Berg erlebt hatte. Ich lebte unter Menschen, die vom Rhythmus der Natur nichts mehr wußten. Nun merkte ich, daß dieser Rhythmus in mir pulste, mich zum Außenseiter machte. Das erschreckte mich zutiefst.
Ich begann zu überlegen, wie ich weit weg gelangen konnte von alldem. Die Gelegenheit bot sich. Ich hatte die höhere Schule hinter mich gebracht und bereitete meine Aufnahmeprü-
fung für die Sophia-Universität vor. Diese Universität, wo Kazuo bereits im ersten Jahr studierte, war von den Jesuiten gegründet worden. Die Studenten aber gehörten den verschie-densten Glaubensrichtungen an. Die Sophia galt als besonders weltoffen und fortschrittlich. Onkel Takeo, der mich sehr gerne mochte, sagte: ›Kunio-chan, schaffst du die Prüfung, kannst du mit mir nach New York fahren.‹ Onkel Takeo nahm dort an einem Kongreß teil. Die schriftlichen und mündlichen Prüfungen waren nervenaufreibend, aber die versprochene Belohnung spornte mich an. Ich büffelte nächtelang und bestand die Prü-
fung. Drei Tage später saß ich mit Onkel Takeo im Flugzeug –
in der Business Class – und verbrachte eine Woche in New York, in einem Rausch, von dem ich mich nur schlecht erholte.
Diese Tage waren Meilensteine
Weitere Kostenlose Bücher