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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Angelegenheit? Nein, Lea: auch meine. Die Geschichte meines Lebens bist du, deine Existenz verkörpert meine Existenz, das weißt du genauso wie ich. Ist es wirklich so schlimm für dich? Noch heute? Warum wolltest du die Vergangenheit ruhen lassen, das Lamento bloß metaphorisch an-stimmen? Immer, wenn zwischen uns die Rede vom Holocaust war, hinterließ der Begriff eine gewisse Flauheit in mir. Dafür hast du gut gesorgt. Du hast mich beschützt, ein gesichertes Haus für das Kind in mir gebaut. Oder war es Gefühlsverdrängung, Lea? Selbstschutz? Das soll kein Vorwurf sein. Aber eines Tages möchte ich von dir die Wahrheit wissen. Du und ich, wir brauchen uns doch nichts vorzumachen. Wir schleppen alle ein Stück Kindheit mit uns herum. Entschuldige meine Schrift, Maman. Ich bin etwas durcheinander… «
    Es wurde ein langer Brief. Und als er endlich geschrieben war, las ich ihn nicht durch, sondern faltete die vielen Bogen zusammen, steckte sie in einen Umschlag und brachte sie auf dem Weg zu Mori-Sensei auf die Post. Ich wußte nicht, wann Lea den Brief lesen würde. Er hatte mich viel Kraft gekostet.
    Und jetzt war ich froh, daß ich es hinter mir hatte.
    35. Kapitel
    I ch wollte Hanako wiedersehen. In der warmen Sommerzeit besuchten wir sie oft. Sie empfing uns in ihrem alten Haus mit den schiefen Gängen, der Täfelung aus unbearbeitetem Holz, den abgenutzten Strohmatten in den helldunklen Räumen. Die Steinstufen rochen nach frischem Wasser, und aus dem kleinen Weihrauchgefäß strömte beruhigender Duft. Kunio sah amü-
    siert zu, wie ich meine Sandalen abstreifte und mich vor der alten Dame verbeugte. Ich vollzog jede Bewegung nach strikte-ster japanischer Etikette. Beim ersten Mal sah ich auf Hanakos Gesicht einen Schimmer von Überraschung, der im nächsten Augenblick in Schalk überging. Sie erwiderte feierlich die Verbeugung, lachte dann ihr reizendes Lachen.
    »Ruth-San, man könnte glauben, du bist hier geboren worden! Wer hat dir das beigebracht? Doch sicher nicht Kunio?«
    Ich erklärte ihr, daß ich schon als Kind begonnen hätte, die verschiedenen Bewegungsmuster zu beobachten.
    Tanzen ist eine besondere Art von Intelligenz. Die Schönheit und Würde einer Verbeugung wurden von mir ebenso schnell wahrgenommen und nachgeahmt wie jede andere Geste. Das war einfach eine Sache, die ich konnte.
    Es war Hanakos Gewohnheit, nachmittags zu einem langen Spaziergang aufzubrechen. Er entsprach ebenso ihrer japanischen Liebe zur Natur als auch ihrem starken Bewegungsdrang.
    Ich ging gerne mit ihr. Wir wanderten durch die Kiefern- und Eichenwälder. Wo sich die Bäume lichteten, schimmerten die Reisfelder, und die Dächer aus verzinktem Eisenblech und Ziegeln blinkten im Sonnendunst. An der Bergflanke war es schattig. Ein wunderbar kühler Wind streichelte unsere Haut, lief uns durch die Kehle, durch die Lungen; mir war, als ob wir ganz in ihm badeten. Während dieser Spaziergänge sprach Hanako viel von früher, vertraute mir Dinge an, die sehr persönlich waren. Ich gestand ihr, daß ich lange gebraucht hatte, bis ich Lea endlich schreiben konnte.
    »Ich habe es von einem Tag zum anderen hinausgeschoben.
    Aus Feigheit, nehme ich an. Oder auch, weil wir uns zu nahe stehen.«
    Hanako nickte mit ruhiger Anmut. Diese Dinge verstand sie tiefer und besser als ich. Der Schmerz war zu groß gewesen, damals. Lea hielt gewisse Erinnerungen auf Armeslänge von sich. Mein Brief öffnete Wunden, weckte Schatten.
    »Ich denke, Lea wird bald nach Japan kommen«, meinte sie.
    In den sonnendurchglühten Büschen zirpten Zikaden; die klaren Töne der »Glocken-Zikade« übertönten alle Geräusche.
    Es war, als ob der Wald mit sonderbarer, wilder Energie seine Stimme erhob.
    »Glauben Sie das wirklich?« fragte ich.
    »Natürlich nicht sofort«, sagte Hanako. »Sie braucht jetzt Zeit, nach all dem, was geschehen ist. Aber sie wird kommen.«
    In ihren Augen, in ihrem Gesicht lag nicht der geringste Zweifel. Sie würde Lea wiedersehen. Sie wußte das so sicher wie sonst nichts. Ihr Herz hatte schon lange Frieden gefunden, und ihre Geduld war unendlich.
    Kunihiko arbeitete viel in der Werkstatt. Seine Schwerter empfand ich als Gegenstände von vollendeter Harmonie und ruhender Schönheit. Der tiefe Glanz und das verzauberte Spiel der kristallinen Oberflächenstruktur entsprach – in meinen Augen – der Schönheit einer Keramikglasur. Ich hätte gerne gesehen, wie er arbeitete, wagte jedoch nicht einen Wunsch vorzubringen, den

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