Seidentanz
Senshi, Hohe-priesterin des Kamo-Schreins, zur Unterhaltung der Kaiserin Akiko. Heute gehört ihr Roman zur Pflichtlektüre in den Schulen. «
Einige junge Frauen stöberten in den Regalen und lasen mit gebeugten Köpfen. Da die meisten Texte in senkrechten Reihen von oben nach unten gedruckt wurden, sprangen die Pupillen ebenfalls von oben nach unten, hüpften wieder hoch, sausten zurück, was sehr witzig aussah.
»Tachi-Yomi – im Stehen lesen«, sagte Rie. »Das ist in Japan üblich. Man blättert stundenlang in Büchern, die später – vielleicht – gekauft werden. Oder auch nicht.«
Sie blinzelte, wobei sie Kunio plötzlich sehr ähnlich sah.
»Unsere Lage ist gut, so nahe bei der Universität. Aber wir zahlen hohe Miete, und für Extras reicht es uns kaum. Oft vertrödeln wir die Zeit, indem wir neue Preise anbringen, um die Inflation einzuholen. Tee?« setzte sie hinzu.
Sie führte mich in den Garten eines Teehauses, gleich neben dem Laden. Die frisch besprengten Büsche dufteten warm und würzig. Die »Tageszikaden« schwirrten. Wir saßen auf rotbe-spannten, tischähnlichen Bänken, die Teeschalen aus schöner Keramik zwischen uns. Ein purpurner Sonnenschirm leuchtete.
Rie bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte ab.
»Rauchst du nicht?«
»Selten.«
»Ich ziemlich oft«, bekannte Rie. »Das ist eine schlechte Angewohnheit. «
Ich wollte wissen, ob die Buchhandlung gut lief. Sie nickte lebhaft.
»Wir haben sämtliche Neuerscheinungen. Ungefähr die Hälf-te der Übersetzungen stammt aus dem Englischen. Eine Meinung läßt sich auf verschiedene Weise bilden, ne? Die Frauen müssen fähig sein, die Männer in ihrer Entwicklung zu fördern.«
Ich trank amüsiert meinen Tee.
»Wie meinst du das?«
»Je passiver sich die Frau verhält, um so stärker fühlt sich der Mann. Er kommt in die Versuchung, Autorität zu zeigen.«
Ich wedelte mit dem blauen Papierfächer, der mit dem Tee gebracht worden war.
»Manche Männer fordern ständig Selbstbestätigung. Auch in Europa, weißt du. Das ist sehr alltäglich.«
»Bei uns kam dieser Einfluß aus China«, sagte Rie. »Das Pa-triarchat galt als nachahmenswert. Zu dumm, ne? Die Männer verlangten Unterwürfigkeit und Tugend, weil das bequem für sie war. Sie fürchteten die Frauen. Ein Moralist aus dem sieb-zehnten Jahrhundert schrieb: Es ist schädlich, die Schulung der Mädchen zu fördern, denn das wird ihnen die Kraft geben, ihre Männer zu verachten. Dabei haben wir Frauen die Schönschrift erfunden, die Dichtung, die Tuschmalerei, die Schauspielkunst.
Alles!«
Rie hatte die meisten Bücher, die sie verkaufte, gelesen. Und dabei viel im Kopf behalten.
»Während der Edo-Zeit drängte uns das Shogunat – die Militärmacht – hinter den Wandschirm, wo wir zu schweigen hatten, was uns überhaupt nicht lag. So kam es, daß die Dichterin Raicho Hiratsuka 1911 verzweifelt schrieb: ›Die Frau war früher die Sonne. Heute ist sie der Mond, bleicher als eine Kranke. Sie lebt durch die anderen und verdankt ihnen ihr Licht.‹ Das zu ändern, war mühsam. Wir haben ein halbes Jahrhundert dazu gebraucht.« Rie nippte an ihrem Tee und entschuldigte sich. Sie habe sich nur wiederholt.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte ich.
Sie warf mit eleganter Bewegung ihr Haar aus der Stirn.
»Nein? Ich denke immer, ich rede zuviel. Selbstbeherrschung muß geübt werden. Wir Frauen sind zu emotional. Wir sollten uns das abgewöhnen«, sagte Rie streng, und ich erkannte sie ganz und gar in diesem Satz. Ihre praktische, brillante, talen-tierte Veranlagung gab ihrem Auftreten etwas sehr Kategori-sches. Sie verstellte sich aus Angst, ihr Zartgefühl könnte entdeckt werden.
Sie erzählte mir von der mächtigen »Vereinigung der Hausfrauen«. Sie war über den ganzen Archipel verteilt, übte einen ständigen Druck auf die Regierung aus. Sie hatte Mitsprache-recht bei den Beschlüssen über die Erhöhung aller öffentlichen Tarife. Sie boykottierte Plastikverpackungen, Pestizide und Waren, die giftige chemische Zusätze enthielten. Sie organi-sierte sich spontan und eigenständig, denunzierte jeden Beste-chungsversuch.
»Was sie erreichen, bezeichnen sie als ›Graswurzel-Bewegung‹. Das ist nichts als Scheinheiligkeit, denn ihr Einfluß ist enorm. Profitgierige Produzenten stecken den Kopf in die Schlinge, und ab ist der Kopf. Bescheidenheit ist keine Zier!« sagte Rie und kicherte wie ein Schulmädchen.
»Und im Beruf?« fragte ich.
Sie seufzte, komisch resigniert.
Weitere Kostenlose Bücher