Seidentanz
ließ die Kinder diese Vorstellung mimen. Nun war die Tierwelt nicht mehr weit: Die Kinder ahmten die Bewegungen der Vögel nach, die sich auf-plustern, mit dem Kopf nicken, sich ducken und in kleinen Kreisen herumrennen. Der Übungssaal war von trippelnden Schritten, Gelächter und frohem Kreischen erfüllt. Ich zeigte den Kindern den Tanz der Schwäne, machte ihnen mit Armbe-wegungen vor, wie sich ihre Hälse zu einem Liebesknoten umschlingen. Die Kinder ihrerseits zeigten mir, wie japanische Kraniche hüpfen, sich verbeugen. Dann entspannten wir uns, indem wir die Arme vor- und rückwärts schwangen und die Köpfe auf dem Hals rundherum rollten. Nun setzten sich die Kinder im Kreis; ich erzählte ihnen, was ich in Israel gesehen hatte: Tausende von kleinen, schwarzen Vögeln, die sich über dem Boden zu einem riesigen, drehenden Kreisel formierten und wie ein schwarzer Wirbelwind in den Himmel stiegen. Die Kinder machten große Augen, nickten. Sie verstanden solche ungewöhnlichen Dinge. Wir mimten spielende Katzen, tapsen-de Elefanten und tänzelnde Pferde. Mit den dargestellten Figuren wurden mir die Kinder immer vertrauter; sie gaben ihnen Namen, erfanden für sie alle möglichen Abenteuer.
Kunio schlug ein Märchenspiel vor, das den Eltern zu Neujahr vorgeführt werden sollte. Wir begannen Masken zu ent-werfen und zu formen. Manche dieser kindlichen Masken waren unbeholfen und naiv, andere von phantastischer Schönheit.
Wir verbrachten Stunden vor Tischen, die ganz voll Papier, Farbtuben, Plastilin, Pappmache und einem wirren Haufen bunter Stoffe waren. Wir malten und schnitzten Papierblumen, Büsche und Bäume, um einen Wald darzustellen. Mit Alumini-umfolie bastelten wir einen Wasserfall. Wir malten Krokodile, Affen, Leoparden und Schmetterlinge. Die Farben leuchteten rosa, zitronengelb, dunkelrot, smaragdgrün. Draußen war es grau und regnerisch, aber mir schien, daß alle Farben und Formen immer bunter und leuchtender wurden.
Die Acht- bis Zehnjährigen, die den Spielunterricht besuchten, waren die Kinder überlegender Eltern. Sie ließen den Kindern ihre Freiheit, preßten sie nicht in das bestehende Pauksy-stem und machten auch nicht kleine Erwachsene aus ihnen.
Darum waren die Kinder so unbefangen. Ihre poesievollen Vorstellungen waren nicht vorzeitig vernichtet worden. Kinder brauchen diese heile Welt; später tritt das Leben hart genug an sie heran.
Am Wochenende schlurften alte Frauen und Männer fröhlich kichernd durch die Räume. Ich beobachtete entzückt und ge-rührt, wie Großmütter mit den Kindern im Kreis kauerten und mit selbstgemachten Stoffbällen Temari spielten. Das Aufpral-len des zumeist mit Hirse gefüllten Balls, das rhythmische Drehen der Hände und der Zusammenklang der Stimmen lehrte die Kinder, sich in der Gemeinschaft betagter Menschen froh zu fühlen. Es lag soviel bezaubernder Selbstbetrug in dieser Eintracht; gleichwohl mochte jedes Kind, jeder alte Mensch, aus dieser Erfahrung Kraft und Zuversicht schöpfen. Der On-jôkan war ein Experiment, eine Utopie. Eltern und Erzieher hatten sich mit grundsätzlichen Fragen befaßt und – im wahr-sten Sinne des Wortes – eine Alternative geschaffen, wo das Ungewohnte vielleicht begann, zur Gewohnheit zu werden. Ich wollte glauben, daß ihre Wunschkraft eines Tages siegte, daß ihr Märchen heller wurde und über den mißklingenden Lärm der Massen leuchtete, bis in alle Länder und über die Dunkelheit hinweg. Es wäre ein köstliches Märchen, ein Traum; ich selbst fühlte mich sehr unvollkommen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich genug tun kann«, sagte ich zu Kunio. »Ich habe zu wenig Phantasie. Und im Grunde bin ich hilflos.«
Draußen war es finster und kalt; die Klimaanlage wirbelte warme Luft in den Raum. Kunio kam gerade aus dem Bad und lag neben mir, mit feuchten Haaren und völlig nackt. Seine langen feinen Muskeln schimmerten im Licht.
»Glaubst du das wirklich?« fragte er.
»Als Kind wollte ich, daß die Puppen mit mir sprechen. Aber es nützte nichts, daß ich sie küßte, sie schüttelte, ihnen die Augen ausstach, Arme und Beine ausriß. Die Puppen blieben stumm. Sie hatten keinen Willen, keine eigenen Wünsche.
Entsetzlich!«
»Da hast du angefangen zu tanzen.«
»Ich machte mich selbst zum Spielzeug. Das gefiel mir besser.«
Er lächelte.
»Wie du weißt, blieb ich als Junge am liebsten für mich.
Möglicherweise war ich ein wenig dumm. Mir kam es so vor, als liefen alle Erwachsenen in die falsche
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