Seidentanz
die Nase.
»Das sind Dinge, die man uns nicht sagen muß. Wir – die Harada – haben ein Gefühl, das man wohl empfinden, aber nicht zeigen sollte. Wir selbst nennen es Stolz, du kannst es ruhig Dünkel nennen, wenn du findest, daß es besser zutrifft.
Aber vielleicht fehlt uns etwas von der Verrücktheit, die mein Vater noch hatte.«
»Kunio hat sie«, entgegnete ich.
Sie verzog die Lippen auf eine Art, die ihr kühles Gesicht plötzlich weich und schelmisch erscheinen ließ.
»Eine Zeitlang drückte er die Augen fest zu. Mein Vater hat immer darauf gewartet, daß er sie öffnet. Jetzt bringt er ein Opfer, aber er hat etwas dafür bekommen, ne?«
Wir sahen uns an. Und plötzlich lächelten wir beide.
Aiko und Sagon machten mir ein Zeichen. Ich ging auf sie zu; wir begrüßten uns. Aikos Gesicht war blaß gepudert, ihr Haar zu einem schlichten Knoten im Nacken geschlungen. Zu ihrem schwarzen Kimono trug sie eine schmale, aber sehr schöne Perlenkette.
»Der Anlaß ist sehr traurig, ne?« sagte sie. »Aber das Leben wird jeden Augenblick wiedergeboren.«
»Er war ein besonderer Mensch«, erwiderte ich.
Sagon betrachtete mich, unbefangen und prüfend. In seinen Augen lag so viel Lebenskraft, daß ich mich gestärkt fühlte.
»Du bist auch etwas Besonderes, Ruth. Das weißt du doch, oder?«
»So genau kann ich das nicht sagen.«
»Nein?« Ein Lächeln flackerte auf seinem Gesicht. »Menschen, die einander ähneln, treffen sich früher oder später.«
Aiko legte ihre leichten, kräftigen Finger auf meinen Arm.
»Vielleicht warst du gerade im richtigen Augenblick da.«
Vom Bugaku sprachen wir nicht; es war nicht angebracht an einer Trauerfeier. Erst nach 49 Tagen, glaubte man, würde sich die Seele, von den irdischen Banden befreit, auf den Weg des ewigen Friedens begeben. Bis dahin brannten Kerzen vor dem Hausaltar; das Leben ging weiter, leise, gelassen und gleichmä-
ßig. Die schwebende Seele beruhigt die Trauernden, gibt ihnen Zeit, ihre eigene Welt wieder aufzubauen. Sie will Frieden, nicht Einsamkeit hinterlassen. Wer ein Gefühl dafür hat, spürt diese Dinge.
Auf der Terrasse war es kalt und leer. Die schattenerfüllte Stille beruhigte. Tief atmete ich die klare Winterluft ein. Im Hof war der Schnee zertreten und matschig. Jetzt, da die Sonne verschwand, wurde die braune Erde wieder hart. Die Gäste verabschiedeten sich. Motoren wurden angelassen, Wagen fuhren die Straße hinunter. Trotz der Kälte trug ich nur ein Sweatshirt und eine Wollstola. Nachdenklich saß ich da, beobachtete, wie die violetten Schatten dunkler wurden. Der Himmel war von einer gespannten gläsernen Härte; ein Winter-himmel.
»Du hast nicht einmal einen Mantel an, Ruth-San.«
Ich hatte Daisuke nicht kommen hören. Jetzt vernahm ich seine Stimme hinter mir, wie einen tiefen dunklen Glockenton, und wandte ihm das Gesicht zu. Er ließ sich neben mir auf die Knie nieder. Ich raffte mich zu einem Lächeln auf.
»Ich friere nie.«
»Dir geht viel im Kopf herum, ne?«
Ich antwortete leise, in bitterem Ton.
»Er ist zu früh gestorben. Er war noch nicht fertig mit den Dingen hier.«
»Nein. Das ist es, was der Tod beinhaltet: den endgültigen Abschluß unseres Tuns.«
»Vielleicht war sein Leben nicht das, was er glaubte?«
Er wiegte sinnend den Kopf.
»Wer kann es sagen? Wir glauben, daß die Seele eines Menschen so lange weiterlebt, wie die Erinnerung an ihn besteht.
Und es liegt an uns, die Erinnerung weiterzugeben. Zum Beispiel, indem wir gute Menschen sind, denn böse Menschen will man so schnell wie möglich vergessen. Das ist doch ganz natürlich, ne? Deswegen plagen wir Japaner uns auch wenig mit Vergangenheitsbewältigung herum, was uns im Ausland gerne vorgeworfen wird. Aber das hieße, böse Seelen am Leben zu erhalten, und wer will ihnen schon diese Ehre erweisen?«
Die Schiebetür glitt zurück; ein junger Kellner kam mit einem Tablett und verneigte sich. Ich reichte dem Priester eine Schale dampfenden Tee. Er beugte sich vor, um die Schale in Empfang zu nehmen. Ich spürte, wie meine Hände leicht zitterten.
»Kunio wird das Schwert vollenden.«
Er hob die Schale an die Lippen.
»Ach, hat er das gesagt?«
»In gewisser Weise.«
Er trank einen Schluck. Dann sagte er:
»Eigentlich hatte ich von ihm nichts anderes erwartet.«
»Er hat viel Zeit gebraucht, um die Kraft, die sein Vater ihm gab, anwachsen zu lassen.«
Er schenkte mir sein schönes, ernstes Lächeln.
»Wenn du die Wahrheit hören
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