Seidentanz
sorgfältig aufgesteckte Haar, mit kleinen Silberpfeilen oder perlmuttverzierten Hornkämmen geschmückt, das exquisite Zubehör: der Haori, ein seidengefütterter Mantel, das kleine Täschchen aus prächtigem Brokat. Die Gesichter waren gepudert, die Augen nachgezogen, die Lippen geschminkt. Die kleinen Mädchen mit ihren flatternden Ärmeln glichen lebhaften Vögeln. Das dunkle Haar wippte wie Gefieder. Winzige Glöckchen, an den zierlichen Sandalen befestigt, klingelten bei jedem Schritt. Der Anblick faszinierte mich, wie jede Schönheit mich gefangennahm, und rührte mich gleichzeitig zu Tränen.
Das Märchenspiel erzählte von zwei Kindern, die sich im Wald verirrten. Weil sie traurig waren, tanzten die Tiere, um sie zum Lachen zu bringen. Eine Affe, ein Hase und eine verschrobene Schildkröte führten die Kinder zu einer Waldfee. Sie rief einen Kranich; die Kinder schwangen sich auf seinen Rük-ken, flogen mit ihm durch die Nacht. Sie erwachten in ihrem Zimmer: Alles war nur ein Traum gewesen.
Das Publikum genoß das Stück; die Kinder im Zuschauerraum seufzten hörbar, als der Kranich seinen Abschiedsreigen tanzte. Der Beifall war einhellig. Die kleinen Schauspieler reihten sich an der Rampe auf, stolz und glücklich und mit erhitzten Gesichtern. Hiro, der pummelige Schildkröten-Darsteller, erhielt den meisten Applaus. Chiyo Sakamoto überreichte mir einen Blumenstrauß. Ich lächelte, verbeugte mich; und während ich das Wohlgefallen der Zuschauer empfing, sah ich mich selbst, wie mein Herzklopfen wuchs, grundlos, mächtig wuchs, unter der Schminke verborgen. Im Licht der Scheinwerfer empfand ich plötzlich einen grenzenlosen Schrecken. Die Bühne verdunkelte sich im Herannahen dieser Angst. Ich fühlte, daß sich die Erde tief unter meinen Füßen spannte, daß der Boden schwankte wie ein hoher Baum. Niemand außer mir spürte das. Ein Kribbeln kroch an mir hinauf, von den Füßen bis zum Herzen, den Lippen, der bleischweren Zunge. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Ich durfte weder schreien noch davonstürzen, während mich das Getöse in meinem Geist fast toll machte. In der Garderobe entfernte ich hastig die Farben aus meinem Gesicht, zog einen Jogginganzug an. Ich lobte die Kinder, verbeugte mich vor den Eltern, verabschiedete mich von Chiyo Sakamoto. Ich wünschte allen ein gutes Neues Jahr und entfloh. Draußen war es eiskalt und dunkel. Wolken zeigten sich nicht, aber es sah nach Schnee aus. Mein Herz hämmerte bei jedem Schritt. Die Proben, die Vorstellung am Nachmittag, hatten an meinen Kräften gezerrt.
Die Bühne war ein Rahmen für die Träume, ein Land der Visionen. Die Grenzen zwischen Erleben und Gedankenwelt verschwanden; es dauerte nicht lange, und meine Wahrnehmung wurde intensiver. Die Angst kroch aus dem Unterbewußtsein in den banalen Tag.
»Das geht nicht so weiter, Kunio. Der Boden schaukelt mir unter den Füßen. Kommt dir das nicht absurd vor?«
Er antwortete sachkundig und vernünftig. Wenn die Schatten der Furcht sich erhoben, war seine Zärtlichkeit gegenwärtig.
Bei ihm fand ich Frieden, wenn auch nur für eine Weile.
»Du besitzt einen natürlichen Instinkt, einen warnenden sechsten Sinn. Das sollte dich nicht beunruhigen. Die Erde zittert sowieso. Die Meßgeräte der Seismologen schlagen an die vierhunderttausend Male im Jahr aus. «
Kunios Gelassenheit wirkte tröstend. Die Gelassenheit eines Menschen, der in einem erdbebenreichen Land geboren worden war. Er hatte schon viele erlebt, schwache und heftige. Wie alle Japaner akzeptierte er diese Tatsache, nüchtern und mit einer Art kühlem Fatalismus.
»Wir sagen Shôganai – das läßt sich nicht ändern. Unser Land liegt an einer Nahtstelle in der Erdkruste. Hier im Stillen Ozean stoßen die Kontinentalplatten zusammen. Das Gestein verhakt sich in der Tiefe, Druck baut sich auf, bis alles mit einem Ruck auseinanderreißt. «
»Kann man Erdbeben ahnen?«
»Das bestreiten nicht einmal die Forscher. Aber sie mißtrauen der Autosuggestion. Mit gutem Grund; ein Fehlalarm hätte verheerende Folgen. Und sie fürchten die Kontroverse, die parapsychologische Theorien auslösen würden.«
»Das sehe ich ein.«
»Verdrängungen liegen uns nicht«, fuhr Kunio fort. »Wir sind in diesen Dingen sachlich. Mit meinen Schülern übe ich regelmäßig den Feuer- und Erdbebenernstfall. Das ist Pflicht für jeden Lehrer. Alle Firmen und Warenhäuser führen Schutz-
übungen durch. Polizei, Feuerwehr und Quartiersvereine pro-ben
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