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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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jemals erblicken wird.
    Kunio sah genau die Sekunde, in der sein Vater starb. Kunihiko zuckte ein paarmal zusammen. Seine Hand tastete über die Decke, fand Kunios Hand, krallte sich um sie. Er öffnete die Augen. Kunio beugte sich über ihn, legte sein Gesicht an das seine. Kunihikos Augen blitzten, sprühten nahezu Funken. Er versuchte mit verzweifelter Kraft zu sprechen, doch vergeblich.
    Kunio sah, wie das Gesicht des alten Mannes sich verzerrte.
    Die letzten, keuchenden Atemzüge des Sterbenden strichen über seine Haut. Sein Atem ging pfeifend, wurde schwach, schwächer, versagte; dann rasselte er wieder, selbst Kunios Herzklopfen vermochte ihn nicht zu übertönen. Dann schüttelte den Sterbenden ein heftiger Krampf, er warf die Füße hoch, sein Mund verzog sich. Sein Herz schlug ein paarmal stürmisch. Sein Leben entfloh, die weit offenen Augen starr. Dann setzte sein Herz endgültig aus. Nach einer Weile legte Kunio sanft seine Hand auf das Gesicht des Vaters und schloß ihm die Lider.
    Es war sieben Uhr; der Anbruch eines schneekalten Morgens im Dezember. Kunio verweilte noch eine Zeitlang am Bett des Verstorbenen. Er hatte gebeten, daß man ihn allein ließ.
    »Ich dachte an das, was du mir so oft gesagt hast, Ruth: daß die Toten in uns weiterleben. Und genau das war es, was ich nun empfand. Ein Austausch hatte stattgefunden: Sein Atem war in meine Lungen gedrungen. Dieses Ende war gleichzeitig ein Anfang. Das Gefühl erfüllte mich mit Schmerz und Wehmut, aber auch mit Stolz. Vielleicht war Kunihiko bei Bewußtsein gewesen, als er meine Hand umklammerte. So, wie ich ihn in Erinnerung habe, möchte ich es glauben. Er hatte sein Leben gelebt; aber seine Aufgabe war nicht vollendet. Dieser Gedanke war für ihn sehr quälend. Irgend jemand muß es tun, das Werk für ihn zu Ende führen. Das Leben ist ein Kreis. Komisch, daß ich dachte, ich könnte entkommen. Eine Zeitlang wollte ich das Leben als gerade Linie ansehen, oder als Viereck. Dabei war für mich alles schon vorgeschrieben gewesen, von frühester Kindheit an durch Jahre und Jahre bis zu dieser Stunde – als mein Vater starb. Jetzt ziehe ich einen Kreis in Gedanken. Und alles wird rund.«
    Kunio sprach stockend, wie unter schwerem Druck. Ich preß-
    te mein Ohr an den Hörer, um ihn besser verstehen zu können.
    »Und ich?« fragte ich leise. »Wo stehe ich in diesem Kreis?«
    Ich hörte, wie er atmete.
    »Du«, sagte er, »du stehst in der Mitte.«
    Die Vorbereitungen zur Bestattung nahmen mehrere Tage in Anspruch. Der buddhistische Priester, der die Zeremonie leiten würde, gehörte – wie Kunios Familie – der Shugendo-Glaubensform an. Auch in den Medien war Kunihikos Tod nicht ohne Widerhall geblieben. Fernsehen und Presse schickten Reporter. Vertreter der Geschäfts- und Finanzwelt, Muse-umsleiter und Galeriebesitzer reisten für den Anlaß nach Miwa.
    Das Ganze hätte leicht zu einem Rummel ausarten können, aber Kunio bestand darauf, daß man dem Verstorbenen, seinem sozialen Rang entsprechend, die einfachsten Ehren erwies.
    Wie es der Brauch war, wurde die Otsuya – die Totenwache
    – im Haus abgehalten. In einen weißen Kimono gehüllt, lag Kunihiko mit dem Kopf nach Norden in einem offenen Sarg.
    Ich wunderte mich, wie klein und zart der Verstorbene wirkte; ich hatte ihn als die Verkörperung von Kraft und Energie in Erinnerung. Der Tod enthüllte den Adel dieses Gesichtes, die harmonische Strenge der Züge. Die blaue Färbung war verblaßt, die Haut war glatt und wachsgelb. Die Hände, die das Feuer gezähmt und die Eisenbarren gehämmert hatten, lagen zart um einen Sterberosenkranz aus weißen Holzperlen. Der Sarg stand vor einem Altar, auf beiden Seiten von dichten Blumengirlanden umrahmt. Er reichte vom Boden bis zur Zimmerdecke und wirkte wie ein Filigran aus verschlungenen Ornamenten. Große Kerzen brannten, und in silbernen Schalen schimmerte Wasser. Auf dem Altar stand ein großes Porträt von Kunihiko in seiner weißen Zeremonialkleidung mit dem traditionellen schwarzen Eboshi-Hut. Die Vergrößerung brachte die weichen Züge zur Geltung, dieses seltsam schwebende Lächeln, das auch Kunio eigen war.
    Die Bestattung fand am nächsten Tag statt. Es war eiskalt.
    Der Schnee rieselte auf die Kiefern und Kakibäume. Vor dem Eingang waren schwarzweiße Stoffbahnen mit dem Familienwappen der Harada aufgehängt. Große Kränze aus Papierblumen, alle schwarzweiß und auf Holzständern befestigt, trugen die Namen der Kondolierenden.

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