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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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in seine Stiefel, die vor der Tür standen, und ging aus dem Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm zu.
    Ein paar Augenblicke später hörte ich, wie er den Motor laufen ließ, um ihn zu erwärmen. Inzwischen stieß er das Gartentor auf. Vom Fenster aus sah ich, wie er einstieg, die Wagentür zuschlug. Das Licht der Scheinwerfer huschte durch die Nacht.
    Der Wagen fuhr die Straße entlang, und alles wurde still. Leise, behutsam legte ich mich auf den Futon, wo er gelegen hatte, umströmt noch von seiner Wärme. Ich dachte, was nützt es, wenn ich wach bleibe? Ich wollte schlafen, doch die Gedanken schwirrten wild und planlos umher, brachten das weite Feld der Erinnerung in Bewegung, weckten Trauer und Mitgefühl. Der Schmerz, der uns – für ein paar Stunden – voneinander trennte, riß mein Denken aus der Bahn. Kunio, wie ich dich liebe! Eine Zeitlang warst du ein verlorener Einzelgänger; der Ernüchterung aber, die auf dich zukam, konnte nur dein starkes Fühlen entgegenwirken. Jetzt hat dein Leben in der Schwebe ein Ende.
    Vor dem Bild eines Sterbenden wirst du in dir selbst versinken, fassungslos und still. Und gleichzeitig beginnen, in dir selbst ein neues Bild zu formen, ein Bild, in das du hineinwachsen wirst – für immer.
    Ich schlief ein; doch nicht lange. Kurz nach acht klingelte das Telefon. In der milchigen Dämmerung griff ich nach dem Hörer. Es war Kunio, der anrief, um mir zu sagen, daß sein Vater gestorben war.
    »Gegen Mitternacht hörte Rie, wie er aufstand und sich an seinen Schreibtisch setzte. Rie war es gewöhnt, daß er nachts manchmal arbeitete, und schlief wieder ein. Wir sahen heute morgen, daß er ein paar Skizzen für die Schnitzerei entworfen hatte, ein sonderbares, formloses Gekritzel. Plötzlich erwachte Rie. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Sie spürte einen kalten Luftzug. Kunihiko war nicht in seinem Zimmer, die Haustür stand offen. Rie ergriff hastig einen Mantel, schlüpfte in ihre Stiefel. Sie sah Kunihikos Spuren im Schnee. Er war zu Hanako ins Nebenhaus gegangen – barfuß! Hanako verschloß nie die Haustür, Taro schlief ja in der Küche. Der Hund war still geblieben, als Kunihiko sich im Dunkeln durch den Gang tastete, die Schiebetür zu Hanakos Atelier aufzog. In diesem Augenblick erlitt er einen Schlaganfall. Hanako hörte einen heftigen Stoß, ein krachendes Splittern. Kunihiko hatte sich an der Schiebetür gehalten, sie fast aus der Schiene gerissen und dabei mit dem Arm das Reispapier durchstoßen. Er hing im Rahmen, die ganze linke Körperseite war schon gelähmt, als Rie atemlos angelaufen kam. Beide legten den Bewußtlosen behutsam auf die Matte. Rie bestellte die Unfallambulanz und rief Dr. Takeuchi an. Als Vater in die Intensivstation kam, war sein Gesicht blau verfärbt, er röchelte bereits.«
    Ich versuchte, meine wirren Gedanken zu sammeln.
    »Was suchte er bloß in Hanakos Atelier?«
    »Das weiß kein Mensch. Dr. Takeuchi sagt, es käme oft vor, daß Kranke kurz vor dem Schlaganfall wieder besonders lebhaft werden. Sie reden vehement, entwickeln einen starken Bewegungsdrang. Als ob sich die Gehirnfunktion, bevor sie aussetzt, ein letztes Mal steigern würde.«
    Manche Patienten, sagte Dr. Takeuchi, überleben noch wo-chenlang. Er reservierte für ihn ein Zimmer in der Klinik, und Rie fuhr nach Miwa zurück, um die nötigen Sachen für ihren Vater zu holen. Inzwischen saß Kunio in der Intensivstation am Bett des Sterbenden und hielt seine Hand, obwohl er kaum annahm, daß sein Vater es fühlen konnte. Die Monitore summten, er starrte auf die flimmernde Herzkurve, hörte das pulsierende Geräusch der Überdruckbeatmungsmaschine. Hinter dem Kontrollpult saß eine Schwester, mit ruhigem, geduldigem Gesicht. Die Geräusche in Kunios Wahrnehmung wurden zu einem Rauschen der Zeit - Augenblicke, die sich irgendwo in einer Tiefe verloren. Über Kunihikos Bett brannte ein grünes Lämpchen. Seine ganze übriggebliebene Kraft schien auf das Dehnen und Einziehen der Rippen gerichtet, einer Aufgabe, der er ununterbrochen, aber nur mit schwacher Kraft nachkam.
    Kunio, der die Augen nicht von dem Monitor ließ, sah die Herzkurve immer flacher werden. Kunihikos Atem war nur noch eine Sache des Mechanismus, der ihn in Gang hielt; er selbst entfernte sich mit jedem Augenblick weiter. Kunio spür-te, wie das Leben sich aus seinem Vater zurückzog, in einer mächtigen, leise rauschenden Woge, wie zurückziehende Wasser, die jene Meerestiefen freigeben, die kein Lebender

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