Seidentanz
Wir gingen durch das Tor, über die hohe Schwelle hinwegsteigend. Durch meine dicken Baumwollsocken fühlte ich den glatten, eiskalten Holzboden. Das Gebäude war angefüllt von Gläubigen, die sich vor den Statuen verneigten. Priester in prächtigen Gewändern, einen Rosenkranz aus Kristall um ihre gefalteten Hände gewunden, sangen die Sutras oder meditierten still. Außer dem Knirschen des Fußbodens, dem vielfältigen Gemurmel der Gebete, waren nur gedämpfte Ge-räusche zu hören.
Eine Statue zog meine wandernden Blicke an, ein Buddha, schlank, mit grazilen Umrissen wie ein Tänzer. Sein heiteres Antlitz sah auf mich herab, begleitete mich wie eine Vision, über mir schwebend. Die Flammen der Kerzen zitterten im Luftzug, erhellten die Deckenbalken, zauberten einen Blend-schein um die Statue, die in einem Feuernebel glühte. Vor ihr standen wir einen Augenblick still, beugten den Kopf, falteten die Hände. Was anderes konnten wir tun, in dieser Nacht, da ein neues Jahr begann, als um Kraft zu bitten? Dann gingen wir weiter, Hand in Hand. Der Strom der Gläubigen wogte und ebbte und zog uns mit sich, zuerst im Kreis, an den anderen Statuen vorbei, dann unwiderstehlich dem Ausgang zu, wo sich zwischen den Säulen der schwarze Himmel zeigte. Wir fanden unsere Schuhe, dort, wo wir sie gelassen hatten, und zogen sie wieder an, als ein dumpfer, dröhnender Laut die Stille brach: Kunio drückte meine Hand.
»Mitternacht!«
Noch während das mächtige Echo langsam in der Nacht verhallte, folgte der zweite Schlag. Über den Köpfen der Menge war eine überdachte Holzbühne zu sehen, an deren Deckenbalken eine riesige Bronzeglocke hing. Ein Mönch stieß mit einem gewaltigen, waagrecht aufgehängten Holzschlegel an die Au-
ßenwand der Glocke. Bei jedem Stoß stieg ein gewaltiger Brummton auf, wirbelte über den Bäumen empor, höher noch, dem Nachthimmel entgegen. Immer wieder tönte die Glocke, langsam und stetig, wie der Schlag eines Riesenherzens. Die festlich gekleidete Menge drängte sich heiter lärmend um die Holzbühne. Überall flammten Blitzlichter auf, unruhige Licht-flecken in der Nacht, dunkel wie Obsidianstein.
»In ganz Japan läuten jetzt die Tempelglocken«, sagte Kunio. »Hundertundachtmal, wie es der buddhistischen Geheim-lehre entspricht. Es geht darum, in drei Zeitformen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alle bösen Gedanken und ungesunden Wünsche aus den sechs Grundwesen der sechs menschlichen Sinne herauszutreiben.«
»Wissen das die Menschen hier?« fragte ich.
»Einige schon. Die meisten empfinden lediglich ein Gefühl der Erleichterung. Das alte Jahr ist vorbei. Sie hoffen, daß das neue gut wird.«
Gut? Ich schluckte würgend. Und in diesem Augenblick spürte ich es wieder – ein Schwanken, das von unten kam, den Körper erfaßte. Nirgendwo konnte ich eine Gefahr entdecken, nicht die Spur eines Zeichens, und doch legte sich die Beklemmung feucht auf meine Haut. Mein Herz hämmerte schwer in meiner Brust. Es kam immer öfter jetzt, dieses Gefühl. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. »Diese Gabe ist eine Bür-de« hatte Daisuke gesagt. »Bin ich stark genug, um sie zu tragen? « rief ich ihm in Gedanken zu. Die Antwort blieb aus.
Scheinbilder, die ich nicht sehen wollte, tanzten in der Welt hinter meinen Augen. Und ich wußte, nebelhaft und verzweifelt, daß diese Gefahr – welche auch immer – einen anderen Menschen betraf. Einen Menschen, der mir nahestand. Ich wußte es einfach aus dem Instinkt heraus. Das Gefühl war nicht neu; bloß hatte ich es bisher nicht genügend beachtet. Ja, es war immer dagewesen, diese tiefe, innere Angst, nie sich wirklich verdichtend, aber auch nie richtig vergehend, so daß mein Herz zitterte und fast zerriß. Wen betraf dieses Gefühl? Vielleicht im Traum, in der Entspannung des Bewußtseins, würde ich die Antwort erfahren. Ich begann verzweifelt an Schlaf zu denken.
»Du hast kalte Hände.«
Kunios Stimme brachte mich in die Wirklichkeit zurück.
»Ja«, flüsterte ich geistesabwesend. »Ich muß mir Handschuhe kaufen.«
Er rieb meine Hände, um das Blut wieder in Bewegung zu bringen, nahm sie unter seinen Parka und schloß mich eng in die Arme. Ich spürte seine Herzschläge wie etwas Tröstendes, das ich festhalten mußte, ganz eng, um nicht zu weinen. Sein Körper war mir vertraut, er gehörte zu mir. Er war verletzlich in seiner Vollkommenheit, vergänglich wie alle schönen Dinge es sind. Ich legte beide Arme um ihn, bergend
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