Seidentanz
Die Dorfvorsteher, der Priester und die Ehrengäste nahmen auf der Bühne Platz. Dann ging eine Bewegung durch die Menge. Eine Gasse tat sich vor zwei Maskenträgern auf. Beide, als Mann und Frau verkleidet, stiegen mit allerlei Possen auf die Bühne. Sie trugen die winterliche Bauerntracht und hielten eine Pritsche in der Hand. Die männliche Maske bestand aus rotem Holz, mit wuchtigem Kinn und überlanger Nase. Die weibliche Maske aus Pappmache hatte rosafarbene, freundliche Züge. Ihr Kopfputz war mit Mandarinen geschmückt. Nach einem Gebärdenspiel der Lockung und Verführung schlug der männliche Schauspieler sein Gewand zurück, entblößte einen armdicken Holzphallus, den er unter den Kimono seiner Partnerin schob. Zum Klang der Flöten und Trommeln mimten jetzt beide die verschiedenen Stellungen des Geschlechtsakts.
»Sie spielen ihre Wunschträume, das ist ausgezeichnet«, bemerkte ich. »Freud hätte hier nicht viel zu suchen.«
Kunio nickte.
»Pornographie ist stets mit Schuld und Angst verbunden. Die Gleichsetzung von Obszönität und Sünde ist den Bauern unbekannt. Sie pflegen ihre eigenen Werte.«
»Offenbar ist ihre Seele recht gesund.«
Die drastische Pantomime war ebenso ungekünstelt und offen wie das schallende Gelächter der Umstehenden. Ein Gebärdenspiel, so alt wie die Menschheit, ohne Heimlichkeit und von magischer Würde durchströmt.
Allmählich wurden die Schatten länger; die Reisfelder schimmerten kupfern. Die Sonne glitt hinter die schwarzen Berge; der jadeblaue Mond brachte eisigen Nachtwind. Laternen wurden angezündet. Die Bauern hatten die Neujahrsdeko-rationen von den Türen entfernt, sie auf einen großen Strohhau-fen geworfen, der jetzt in Brand gesteckt wurde. Die Luft, in der sich das Feuer bewegte, war von rotem Glühen erfüllt. Es roch nach Rauch und brennendem Stroh, nach süßem Reiswein und Grillspießchen. Von allen Seiten dröhnten die Trommeln.
Rotwangige, lachende Kinder hielten süße Mocfo-Kugeln auf Stecken, um sie zu braten. Die Glut der Flammen schlug uns ins Gesicht, während unser Rücken kalt war. Der Atem gefror stoßweise zu weißen Wölkchen. Mit dem Einbruch der Nacht kehrte auch mein Kopfweh zurück. Mir war übel, ich schwitzte und fror gleichzeitig. Kunio legte die Hand auf meine Stirn, dann auf seine, um die Wärme zu vergleichen.
»Kein Fieber!« stellte er fest. »Aber du zitterst ja. Und du trägst noch immer keine Handschuhe«, setzte er vorwurfsvoll hinzu, während er kräftig meine Hände rieb.
»Das macht nichts. Ich habe nur Kopfweh.«
»Komm, wir gehen« sagte er besorgt. »Hanako wird dir einen Kaffee machen.«
Durch den Schneematsch stapften wir zu unserem Wagen zu-rück. Kunio setzte sich ans Steuer, der Motor startete. Nur der ferne Schein des Feuers schimmerte durch die Bäume, dann wurde alles stockfinster. Die Scheinwerfer tanzten über Baum-stämme und schneegekrönte Hecken. Der Vollmond zog am Himmel eine silberhelle Bahn, als wir vor Kunihikos Haus parkten. Der Boden war hart gefroren, glatt wie eine Eisbahn.
In Hanakos Haus brannte trübes Licht. Kunio stieß die Haustür auf, rief Tadaitna!, um der alten Dame unsere Ankunft mitzuteilen. Taro sprang winselnd an uns hoch, als wir im Vorraum unsere Stiefel auszogen. Kunio kraulte ihn, wobei er seine Wange an den Kopf des Hundes legte. Nach einer Weile hörten wir ein Schlurfen: Hanako erschien in dem engen, spärlich erleuchteten Gang. Sie trug eine Winteryukata und eine dazugehörige Weste aus wattierter Baumwolle. Der dunkle Stoff hob das Silberweiß ihrer Haare noch deutlicher hervor. Sie, die sonst die Ruhe selbst war, schien ihre Fassung nur mühsam zu bewahren. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Ich wußte nicht, ob dieser Ausdruck Betroffenheit, Freude oder Schmerz bedeutete. Er schien mir eine Mischung aus allen dreien zu sein.
»Wie gut, daß ihr da seid! Ich versuche euch schon seit ein paar Stunden zu erreichen. Aber da war immer nur der Anruf-beantworter.«
»Ich wollte Ruth unser Dorffest zeigen.« Kunio starrte sie an.
»Warum? Was ist geschehen?«
Sie antwortete geistesabwesend:
»Schließ die Tür, Kunio-chan, es zieht! Ruth, du siehst ja ganz durchfroren aus.«
»Ich habe Kopfweh.«
»Seit wann denn?«
»Ach, seit ein paar Tagen schon. Ich denke, es ist die Kälte.«
»Dann wird vielleicht ein heißer Kaffee gut sein.«
»Ja, danke«, sagte ich.
Sie ging in die Küche, ließ Wasser in den Kessel laufen und drehte das Gas auf. Sie
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