Seidentanz
gewandt; sie hatte eine kleine Papierrolle entdeckt, achtlos hingeworfen neben dem Tokonoma. Hanako hatte sie bisher nicht bemerkt, sie lag im Schatten der Pampa-gräser, die in der Steingutvase ein Winterbukett bildeten. Nun war das Licht weitergewandert; das Papier leuchtete in der Sonne. Es gehörte da nicht hin, der Anblick war störend. Hanako wippte ungeduldig auf ihre Fersen zurück, trat auf die Rolle zu und hob sie auf.
Hanako sprach mit ihrer klaren, melodischen Stimme, die Augen unverwandt auf mich gerichtet. Was ist nur, dachte ich, warum sieht sie mich so an? Jetzt neigte sie sich über das Lackkästchen, hob vorsichtig den Deckel in die Höhe. In dem Kästchen lag der zusammengerollte Bogen dünnen Reispapiers.
Hanako zog ihn mit den behutsam tastenden Fingern ihrer un-versehrten Hand heraus, hob ihn ehrfurchtsvoll an ihre Stirn.
Dann rollte sie den Bogen langsam auf. Kunio und ich beugten uns vor, um besser zu sehen. Der Schock erfaßte uns im gleichen Atemzug.
Es war eine Sutnie – eine Tuschzeichnung. Sie tanzte in harmonischer Pinselführung über den durchscheinenden Bogen und war mit Kunihikos rotem Siegel versehen. Sie zeigte eine Schwertlilie.
Eine Weile war es, als stocke alles in uns, Blut, Atem, das Leben selbst. Wir teilten dieses Gefühl einer vollkommenen Überraschung; wir konnten nichts tun, nichts sagen, so fassungslos waren wir. Meine Kehle wurde eng, meine Wangen glühten. Das war kein Zufall, ganz und gar nicht: Die Linie eines Pinselstrichs ist eine Analogie zum Schwung in der gebo-genen Klinge, zu dem subtilen Spiel von Licht und Schatten auf der Oberfläche des Stahls. Und mit einem Mal war in diesem Zimmer etwas Geisterhaftes: Unsichtbare Augen richteten sich auf uns, eine Stimme sprach in der Stille. Auch wenn wir sie nicht hören konnten, spürten wir sie doch. Sie sandte uns ein Zeichen, deutlich und klar.
Eine Pause trat ein, bevor Kunio das Schweigen brach. Seine Stimme klang dunkel und rauh, ganz anders als sonst. Eine Stimme, die mir unbekannt war:
»Er will, daß ich eine Schwertlilie schnitze!«
Ein kleines Lächeln hob Hanakos Lippen.
»Du dachtest, du hättest die Wahl, Kunio-chan. Das machte dir Kummer, ne? jetzt bist du von deinen Zweifeln erlöst…«
Er hob den Kopf; ich sah sein Gesicht im Licht der Stehlampe. Der Stolz in seinen Augen, die Ruhe auf seinem Antlitz berührten mich ebenso wie seine Stimme.
»Ja. Nicht ich brauche jetzt zu entscheiden.«
Er nahm den dünnen Bogen, auch er hob ihn an seine Stirn, bevor er ihn lange betrachtete. Die Zeichnung war wundervoll, vollkommen: eine Wellenlinie, scharf und zart, biegsam und kraftdurchströmt.
»Er wußte im tiefsten Innern, daß sein Leben vorbei war«, sagte Hanako ruhig. »Es lag ihm viel daran, dir seinen Wunsch zu vermitteln.«
Kunio holte gepreßt Atem.
»Aber warum erst in dieser letzten Nacht? Warum nicht vorher, als wir genügend Zeit hatten, darüber zu reden?«
Sie lächelte; es war ein seltsames Lächeln, das ihre Mundwinkel herabzog und sie jünger erscheinen ließ, als sie war.
»Wahrscheinlich wußte er selbst nicht, was er machen wollte.«
Kunio nickte nachdenklich.
»Ja, das stimmt. Er plagte sich ständig mit dieser Frage herum.«
»Er war der Meister«, sagte Hanako. »Er hatte zu bestimmen. Das ist nicht einfach. Siehst du, Kunio-chan, wir Menschen sind ein großes Rätsel. Die Eingebung kommt blitzartig, unabhängig von Verstand oder Willen. Es ist ein anderer Teil unseres Selbst, der diese Dinge leitet. Kunihiko wußte genau, was er tat. Nach seinem Tod würde das Haus voller Trauergäste sein, er wollte nicht, daß die Skizze verlorenging. Mein Atelier würde niemand betreten. Vermutlich wollte er die Rolle in die Tokonotna legen, damit ich sie dort vorfand. Als er stürzte, fiel ihm der Bogen aus der Hand; der Luftzug wehte ihn durch den Raum. So ungefähr wird es gewesen sein. Ich erkenne jetzt, daß Kunihiko sehr überlegt gehandelt hat. Seine Gedanken waren logisch und klar. Wir jedoch hatten ein Brett vor dem Kopf.«
Ich beugte mich vor, um die Tuschzeichnung eingehender zu betrachten. Sie erschien mir voller Eleganz und sprühender Kraft. Plötzlich fiel mir ein, ich könnte sagen, daß ich diese Blume schon vorher gesehen hatte. Sie kam mir gleichzeitig fremd und vertraut vor. Sie erschien mir wie eine Einzelheit aus meinem Leben – das ja aus Tausenden von Einzelheiten bestand. Das immerhin könnte ich jetzt sagen, dachte ich. Doch lag es an den
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