Seidentanz
ein feines Beben wie von einem vibrierenden Draht. Aber ich wollte nicht verstört wirken und zeigte ein schnoddriges Lächeln.
»Ausgezeichnet. Ich wollte schon immer groß herauskom-men.«
Sie setzte ihr Glas ab. Ihr rotgeschminkter Mund war feucht.
Die ungewöhnliche Farbe des Weins verlieh ihren Lippen eine seltene Leuchtkraft, fast indigoblau.
»Alle Dinge sind zu überschauen. Setze dein Gehirn in Bewegung und nicht nur deine Füße!« Sie lächelte plötzlich. Ihr Mund ließ an eine purpurne Nelke denken. »Mein liebes Kind, es ist ebenso falsch, über alles zu spotten wie über alles zu weinen. Aber in unserer Familie sind wir alle ein bißchen ungewöhnlich. Und warum sollen wir uns davon abbringen lassen, hm?«
Ein Schweigen folgte. Auf einmal wurde mir kühl. Die Haut meiner Arme fühlte sich kalt an. Was wußte Lea? Die Sache mit Venedig hatte ich ihr verschwiegen. Vermutlich war mir nur ganz einfach schlecht geworden. Ganz bestimmt sogar. Da lohnte es sich nicht, darüber zu reden. Und andere Gedanken dürfte ich eigentlich gar nicht denken. Ich beugte mich über den Tisch.
»Du weißt sehr gut, Lea, daß ich nicht borniert bin, was ich auch sonst sein mag, möglicherweise sogar phlegmatisch. Aber es ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Mach dir keine Illusionen, und gib mir bitte nicht die Schuld, wenn ich sie nicht finde. Und außerdem, woran sollte ich sie erkennen?«
Sie blinzelte. Ihre Augen schimmerten klar wie Aquamarin.
»Der Friedhofswächter hat mir die Frau beschrieben.«
»Und?«
»Er sagte, daß sie einen Kimono trug. Und eine Hand wie der Buddha hatte.«
Leas eigene Hand machte unvermittelt eine ruckhafte Bewegung. Ich starrte sie an, schluckte und antwortete dann:
»Wollte er damit sagen, daß sie ein besonderes Zeichen machte?«
Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Ziemlich heftig.
»Ich weiß es nicht. Er zeigte auf seine Finger und sagte, sie hat eine Hand wie der Buddha.«
»Das war wahrscheinlich nur so eine Redensart.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
Ich lehnte mich zurück und gähnte. Der Wein machte mich schläfrig. Lea hatte schon recht, ich sollte nicht zuviel davon trinken.
»Gut. Ich werde zum Friedhof gehen und den Wächter aus-fragen. Und wenn es jetzt ein anderer ist, lasse ich mir die Adresse von dem Alten geben, falls er noch lebt. «
»Grüße Iris von mir.«
Ich zuckte zusammen.
»Was hast du gesagt?«
Sie streichelte den Labrador, geistesabwesend. Ihr Armreif blinkte.
»Daß du sie grüßen sollst. Erzähl ihr ein wenig, wie es hier so ist. Was du im Leben treibst, und ähnliches, du weißt schon.
Tote interessieren sich für solche Dinge. Dummerweise sind die Menschen nicht redselig, wenn sie die Gräber besuchen. Sie trauern bloß, und die Verstorbenen langweilen sich. Iris liegt schon seit fünfzig Jahren da, außer Hanako besucht sie ja keiner.«
6. Kapitel
D er Mai war schwül und regnerisch. In Luzern verbarg eine Dunstglocke die Stadt und die Berge. Nebel umhüllte den Was-serturm, wallte um die Mauern des Musegg. Vom Horizont wälzte sich eine Wolkenbank heran, eine Regenbö fegte über den See, der plötzlich schiefergrau glänzte. Inmitten eines wei-
ßen Möwenschwarms löste sich ein Passagierdampfer vom Ufer. Auf dem Quai schüttelten Schwäne ihr Gefieder. Das
»Kleintheater«, wo Naomi ihre Vorstellung gab, befand sich unweit des Bahnhofs, auf einer der geradlinigen, verkehrsrei-chen Straßen. Ich betrachtete die Fotos im Schaukasten. Naomi wirkte fremd und seltsam dramatisch in ihrer Bühnenaufma-chung. »Der Flug der Vogelfrau« hieß das Stück, das sie tanzte.
Schon im Foyer hörte ich die Musik. Naomi war beim Proben.
Ich nannte meinen Namen an der Kasse. Von der jungen Frau, die dort saß, erfuhr ich, daß die Vorstellung schon fast ausver-kauft war. Ich stieß die Tür zum Theaterraum auf. Die Wände waren mit Malereien dekoriert, großflächige, kraftvolle Farb-motive, die Bühne war ganz in Schwarz gehalten. Verschiedene Geräusche schallten aus dem Hinterbühnenraum. Ich hörte Naomi Japanisch sprechen. Ich wußte, daß ein Assistent aus Tokio gekommen war, um ihr bei den Aufführungen behilflich zu sein. Ich zog einen Klappstuhl heran und setzte mich. Proben bestehen aus einer Unmenge Einzelheiten: Szene und Vorbühne müssen abgeschätzt werden; man muß sich Zugänge und Nebenräume im Gedächtnis einprägen, weil manche Stücke es vorsehen, daß die Tänzer im Dunkel die Bühne
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