Seidentanz
betreten oder verlassen. Die Lichtintensität wird erprobt, der Sound definiert.
Ich wartete gelassen und rührte mich auch nicht, als Naomi plötzlich auf der Bühne erschien. Sie trug ihren weißen Trainingsanzug und wirkte aus der Entfernung wie eine Halbwüchsige. Sie prüfte die Position der Scheinwerfer mit einem Techniker, dem sie ihre Anweisungen gab. Das Bühnenbild stellte eine Art geschlossenen Raum aus Backsteinen dar, mit einem zugemauerten Fenster. An einem Kabel hing eine Leuchtkugel.
Von einer Seitentür aus führten vier Stufen auf die Bühne. Ein rotes Band zog sich dort entlang, führte auf die Wand zu – ins Nichts. Naomi ging dem Band nach, langsam und sehr nachdenklich, als ob sie die Schritte zählte. Auf einmal hob sie den Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte.
Die Probe dauerte bis um sieben Uhr. Um acht begann die Vorstellung. Im Foyer befand sich ein kleines Café. Ich saß allein an einem Tisch, als eine lebhafte Frau zu mir trat. Ihr Haar war nach hinten gekämmt und zu einem schweren Knoten geschlagen. Ihre Augen waren geschminkt, und sie trug zu einem grauen Pullover eine schöne Türkiskette. Sie stellte sich als Susanne Vogt, die Leiterin des Kleintheaters, vor. Naomi sei oben, in der Künstlergarderobe, und wolle mich sehen.
Susanne sprach mit tiefer Stimme, warmherzig und humorvoll.
Ob ich Naomi und ihrem jungen Assistenten einen Imbiß bringen würde? Die Ärmsten hätten acht Stunden lang geprobt, nur Bananen gegessen und Wasser getrunken. Und machten jetzt Gesichter wie die Zombies.
»Das kann ich nicht verantworten, so dünn, wie die sind.
Gleich haben wir ein volles Haus, und beide fallen in Ohnmacht! «
Sie bestellte Sandwiches: Hühnerfleisch, Salat und Ei. Und dazu zwei Tassen Kaffee. Hinter der Bar führte eine halsbre-cherische Holztreppe zur Künstlergarderobe. Mit dem Tablett balancierte ich die Stufen hinauf.
»Naomi?« rief ich.
Ein junger Japaner in Drillichhose und schwarzem Pullover kam an die Tür. Er verneigte sich lebhaft, dankte erfreut und nahm mir sofort das Tablett aus den Händen. Naomi saß vor dem Spiegel, steckte ihr Haar auf und lächelte mich an. Sie trug einen dünnen Bademantel aus Frottee. Neben ihr, in einer Vase, standen drei weiße Gladiolen.
»Danke für die Verpflegung!« rief sie.
»Nichts zu danken. Die Idee stammt von Susanne.«
Naomi deutete auf den jungen Mann.
»Yoshito-san, mein Tontechniker. Er kam direkt nach Budapest.«
Yoshito zeigte eine Reihe weißer Zähne. Er war kleiner als ich, mit zimtbrauner Haut und feinem, lebendigem Haar, das sich am Hinterkopf aufrichtete. Er wirkte wie ein beflissener Schüler. Doch an der Art, wie er den Sound mixte, hatte ich längst gemerkt, daß er ein Profi war. Ich sagte zu Naomi:
»Du siehst müde aus.«
Sie seufzte.
»Da, siehst du nur? Ich habe Ringe unter den Augen.«
»Die kann man vertuschen.«
Sie aß ihr Sandwich und hielt die Hand unter dem Brot, um die Krumen aufzufangen.
»Und dir, wie geht es dir?«
»Nihongo naraimasu«, sagte ich. »Ich lerne Japanisch.«
Yoshito ließ einen überraschten Laut hören, hielt sofort die Hand vor den Mund. Naomi nickte mit vollem Mund.
»Ich habe meinem Onkel geschrieben, daß du kommst.«
»Dem Priester?«
»Ja. Es ist wichtig, daß du ihn triffst, bevor wir zu Mori-Sensei gehen.«
Sie hatte das Wort Sensei – Meister – gebraucht. Ich sagte:
»Im Grunde habe ich für Priester wenig übrig.«
Sie schmunzelte.
»Laß es mal darauf ankommen.«
Über einem Stuhl lag ein Kimono ausgebreitet; ein schweres, wattiertes Gewand aus Brokat, mit purpurnem Seidenfutter.
Das Muster zeigte auf hellgrünem Grund lachsfarbene Pfingstrosen und schwarze, golddurchwirkte Sonnenräder. Ich strich mit der Hand darüber. Durch die eingewobenen Goldfäden fühlte sich der Stoff eigentümlich rauh an.
»Das ist ein Hochzeitskimono aus dem neunzehnten Jahrhundert«, erklärte Naomi. »Man findet in Kyoto noch solche Dinge. Er war billig zu haben. Er ist schon zerschlissen, siehst du?«
Sie zeigte mir einige Stellen. Ich fragte:
»Kann man die nicht ausbessern lassen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das wäre viel zu teuer! Man müßte ihn ganz auseinander-nehmen, neue Goldfäden einsticken und wieder zusammennä-
hen. Künstler, die das fertigbringen, arbeiten heute nur noch für die großen Kabuki-Bühnen und für Museen. Es lohnt sich nicht! Der Kimono wird
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