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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Inszenierungen müssen mit Macht sprechen. Es ist wie in der Liebe. Man kann sich an der eigenen Erotik befriedigen, aber auf die Dauer braucht man mehr: eine Abmachung mit dem Partner, dem Publikum also.
    Tanzen ist ein Liebesakt, eine Darbietung des Körpers, ein Entblößen der Emotionen. Alwin und ich sahen das so. Unser Tanz wurde nicht einfach als Bewegung in die Welt geschickt, sondern von uns als Impuls ausgestrahlt. Für Pierre, der die Musik dazu schuf, blieb es wohl mehr eine Form der Selbstverwirklichung. Überspitzt ließe sich sagen, daß er seine eigene Psychoanalyse machte. Er spielte mit viel Neugier, tat emoti-onslos immer das Richtige. Seine Musik wurde nie durch körperliche Einwirkung hervorgerufen, sondern durch geistige Konzentration, das war der Unterschied.
    Ich brachte mir Japanisch bei; nicht sehr zielstrebig, aber regelmäßig. Ich achte auf den Klang einer Sprache, und Japanisch ist sehr vokalreich. Ich befaßte mich zuerst mit der Theorie, entdeckte, daß die Sprache außerordentlich vielseitig und reich an anschaulichen oder verkürzten Redensarten ist, deren Sinn intuitiv zu erfassen ist. Das gefiel mir. Als Kind hatte ich die Schule gehaßt, mir jeden Morgen die gleiche Frage gestellt: Soll ich gehen oder lieber schwänzen? Ich geriet darüber sehr in Verlegenheit und war schon erschöpft vom vielen Nachdenken, bevor ich überhaupt das Klassenzimmer betrat. In der Schule fiel ich auf, zwangsläufig. Ich gehörte zu einer unange-nehmen Sorte, zu den einseitig Überbegabten. Überbegabt in Sprachen, im Auswendiglernen, im Zeichnen und Basteln.
    Verbohrt in allen anderen Gebieten, nicht erziehbar. An mich war nicht heranzukommen, weil ich niemanden an mich heran-ließ. Daß ich mich später mit Behinderten befaßte, hatte seinen guten Grund. Bevor ich zur Schule kam, hatte mir Lea viel vorgelesen. Das war die einzige Art gewesen, mich ruhig zu halten. Dann, von einem Tag zum anderen, war Schluß damit gewesen.
    »Ich lese dir nichts mehr vor, ich habe keine Lust und keine Zeit mehr. Lesen ist eine ganz einfache Sache, die Buchstaben kennst du ja.« Und da ich Freude an den Geschichten hatte, begann ich, nach einigen Tagen tiefster Verwirrung und Fru-stration, selbst zu den Büchern zu greifen. In dem Alter, in dem andere Kinder »Das Apfelmäuschen« lesen, las ich Shakespeare, Homer und Dickens und verstand von alldem nichts, was nicht die geringste Rolle spielte. Im sechsten Schuljahr las ich Rabelais, Boccaccio und die »Divina Commedia« – in ungekürzter Ausgabe. Und Hemingway, Colette, Lamartine, Mary W. Shelley, Walter Noble Burns. Und Mark Twain, Theodor Dreyser und Mayne Reed. Und den Talmud und die Bibel. Als meine Lehrerin von diesen Lektüren hörte, ließ sie meine Mutter kommen.
    »Na ja«, meinte Lea, »wir haben eine umfangreiche Bibliothek, und das Kind liest so ungefähr alles, was ihm in die Finger kommt.«
    »Auch Erotik?«
    »Bei uns gibt es keine Zensur«, erwiderte Lea. »Ich nehme an, daß Ruths Gehirn eine vernünftige Auslese trifft.«
    Daraufhin hatte sich die überforderte Lehrerin einen Spruch geleistet, über den sich Lea noch jahrelang amüsierte:
    »Aber Madame, wie soll das Kind denn lernen, wenn es nur liest?«
    Und Lea, achselzuckend:
    »Wie soll es denn lernen, wenn es nicht liest?«
    So war es damals gewesen. Das Credo meiner Eltern war: Du kannst dir alles selbst beibringen, du bist intelligent genug.
    »Die Schule ist wie ein Restaurant«, pflegte Michael zu sagen. »Der Unterricht ist die Speisekarte. Suche dir die Gerichte aus, die du magst und laß alle anderen stehen.«
    Darin lag ein besonderer Sinn. »Dein Beruf muß dir gefallen«, erklärte mir Michael, »sonst bist du nicht erfolgreich.
    Befasse dich also nur mit Dingen, die dir liegen. Dafür aber gründlich.«
    Das hörte sich tolerant an, war aber im Grunde harte Disziplin. Und auf die wirksamste Art, ohne Fuchtel von außen.
    Das Wesen der Selbständigkeit ist keine Fähigkeit, die wir in uns tragen: Wir müssen sie erwerben. Die meisten Menschen benötigen eine Hierarchie. Sie fühlen sich dabei wohler. Meine Eltern hatten erlebt, wohin das führt.
    »Ich will nicht, daß du gehorsam bist«, sagte Lea ohne Um-schweife. »Protestiere, wenn dir etwas nicht zusagt. Gehorsam ist eine gefährliche Eigenschaft.«
    Aus solchen Überlegungen heraus lernte ich also Japanisch.
    Und befolgte dabei wieder einen Grundsatz von Michael: »Um das Gehirn funktionstüchtig zu erhalten, soll man es

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