Seidentanz
nicht mit unwichtigen Dingen belasten.«
Ich übte mit Kassetten, murmelte Worte vor mich hin, ließ mich von dem Rhythmus tragen. Ich arbeitete viel mit Wortma-lereien und Gedankenverbindungen, prägte mir die Sätze für das tägliche Leben ein und natürlich auch das Vokabular des Tanzes. Vorläufig genügte das. Darüber hinaus gibt es eine andere Sprache, die Sprache des Herzens. Und später würde ich weitersehen.
Alwin war nicht glücklich. Er gewöhnte sich schlecht an den Gedanken, daß ich fortging. Er sagte: »Ich bin deprimiert«, und der abgedroschene Ausdruck klang bei ihm sehr echt. Er wurde immer stiller, brachte kein Lächeln mehr zustande, und auf sonderbare Weise teilte sich seine Traurigkeit auch mir mit.
»Warum gehst du eigentlich, Ruth?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du mußt doch einen Grund haben.«
»Da gibt es verschiedene.«
»Mir scheint, in Venedig ist eine Menge passiert.«
»Ja«, sagte ich.
Worte nützten da nicht viel. Alwin und ich waren uns zu na-he. Wie ein großer Puppenjunge lag er neben mir, weich und gelenkig, als wäre er aus Stoff. Ich hielt seine sensiblen Hände zwischen den meinen und streichelte sie.
»Wie lange wirst du fortbleiben?«
»Nicht für sehr lange, aber schon für drei oder vier Monate, nehme ich an. Inzwischen kannst du bei mir wohnen.«
»Das hast du gesagt. Aber alleine?«
»Schaff dir ein Mädchen an! Oder einen netten jungen Mann, wenn dir das lieber ist.«
Alwin stand nicht der Sinn nach Scherzen. Ich sprach weiter:
»Wie wär’s, wenn du an meiner Stelle im ›Wacholderhaus‹
unterrichten würdest?«
Ich wußte zwar nicht genau, was er erwartet hatte, dies jedenfalls nicht. Seine blaßbewimperten Augen belebten sich.
»Im Ernst?«
»Das wolltest du doch schon immer«, sagte ich.
»Vielleicht«, sagte er mechanisch.
»Ich dachte, du wolltest auf jeden Fall.«
»Hast du schon mit Dr. Graf gesprochen?«
Dr. Graf war der Leiter der Abteilung für Neurologie.
»Noch nicht. Ich wollte zuerst deine Zustimmung.«
Er ließ sich zurückfallen, starrte zur Decke. Eine Spur von Angst zuckte um seinen Mund.
»Meinst du, Dr. Graf sagt ja?«
»Davon bin ich überzeugt.«
Er rekelte sich unruhig.
»Glaubst du, daß ich es schaffe? Immerhin bin ich erst seit einem Jahr dabei.«
Ich legte meine Beine zwischen seine Schenkel, streichelte sein Haar, das hell wie Weizen war. Ich empfand für ihn eine große Zärtlichkeit.
»Keiner macht es besser als du.«
Mit Pierre verhielt es sich anders. Unsere Gefühle füreinander im Bett waren kein Grund, daß ich ihm nachweinte. Nicht, daß er schlecht zu mir paßte, aber zwischen uns war nie etwas Tiefes gewesen. Pierre war ein guter Liebhaber, der beste, den ich bisher hatte, und er war auch nicht pervers. Seine Bedürf-nisse waren einfach, sein Körper kräftig und gesund. Doch ich hatte längst festgestellt, daß alles ihn nur deshalb interessierte, weil er beschlossen hatte, es interessant zu finden. Es gab in seinem Leben keine Feinheit, die seine Stimmung spannend machte. Wir waren nicht von derselben Art. Ich entdeckte, daß er vielleicht schon lange gehen wollte. »Wir sind doch nicht aneinandergenagelt, obwohl es mir manchmal so scheint«, scherzte er anzüglich, aber ich hatte feine Ohren. Noch etwas entdeckte ich, nämlich, daß er sich nicht gerne verwirren ließ.
Die Sache mit Venedig beschäftigte ihn sehr.
»Soll ich dir etwas sagen? Ich will mit diesen Dingen nichts zu tun haben, sie sind mir unheimlich. Es gibt Grenzen, die ich nicht überschreiten will. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, aber es ist nun mal so.«
Ich glaube, daß ich gelächelt habe. Pierre fürchtete das Unsichtbare. Ja, nach dem Erlebnis hatte er begonnen, sich von mir zu trennen; er fiel von mir ab, ganz allmählich, wie ein absterbendes Gewebe sich vom Körper löst, sobald die Zeit gekommen ist. Ich verstand ihn gut und war ihm nicht im geringsten böse. Er sagte, daß er nach Australien gehen würde.
Lea stand im Garten, in Jeans und Hemdbluse, und betrachtete mißgelaunt die ersten Knospen der Pfingstrosen.
»Sie sind klein in diesem Frühling, es hat zu viel geregnet.«
Ein junger Labrador sprang hinter einem Busch hervor und legte Lea eine tote Feldmaus zu Füßen. Tino gehörte einer Freundin, die ihn bei Lea ließ, wenn sie für ein paar Tage ver-reiste.
»Igitt! « seufzte Lea.
Sie holte eine Zeitung, hob den zerdrückten kleinen Kno-chenhaufen vorsichtig auf und warf ihn in den
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